Falkenhof 02 - Auf der Spur des Falken
und auch von Onkel Heinrich unterrichtet worden war. Das Lernen war ihm nie schwer gefallen, was wohl an seiner außergewöhnlichen Begabung lag. Er brauchte nämlich nur eine Textseite kurz zu überfliegen um ihren Inhalt zu behalten. Schlug er das Buch zu, konnte er den Text, den er nur wenige Sekunden lang vor seinen Augen gehabt hatte, Wort für Wort wiederholen. Onkel Heinrich hatte einmal gesagt, dass sein Gedächtnis noch besser und schneller arbeitete als eine camera obscura. Diese brauchte Stunden um das festzuhalten, was durch ihre Linse auf die lichtempfindliche Silberplatte in ihrem Innern fiel.
Tobias, der mehr Sprachen beherrschte als sein Onkel, Sadik und mehr auch als sein weltgereister Vater, saß versonnen im Gras und fragte sich, wie es in einem fremden Land wie Frankreich wohl sein würde, und ob er wohl jemals die Möglichkeit erhielt, sein Arabisch in Sadiks Heimat anzuwenden. Paris lag schon ein aufregendes Abenteuer entfernt. Wie weit war es da erst bis nach Ägypten? Doch wenn sie das Rätsel des Falkenstocks lösen und womöglich nach dem verschollenen Tal suchen wollten …
Er fuhr aus seinen Gedanken auf, als Sadik seinen kleinen Gebetsteppich einrollte und sagte: »Ich muss noch etwas erledigen. Es dauert nicht lange. In einer Stunde bin ich wieder zurück.«
Tobias sah ihn verblüfft an. »Du willst weg? Jetzt, da es gleich dunkel wird?«
»So ist es«, bestätigte er mit einem spöttischen Lächeln. »Und was hast du gegen die Dunkelheit einzuwenden? Sie ist der beste
Freund der Lichtscheuen und der Verfolgten. Du brauchst mit dem Essen nicht auf mich zu warten.«
Tobias sprang auf. »Sadik, warte! Du kannst dich nicht einfach davonschleichen ohne mir zu sagen, was du vorhast.«
»Nichts, was dich beunruhigen müsste«, gab Sadik belustigt zurück und fügte nicht ohne Spitze hinzu: »Und hast du mich nicht auch eine geschlagene Stunde in dieser Gasse in Munderheim warten lassen ohne mich in deine Pläne eingeweiht zu haben? Also übe du dich diesmal in Geduld. Aber damit dir die Zeit nicht zu lang wird, gebe ich dir ein Rätsel auf.«
»Ich will kein Rätsel! Ich will wissen, wohin du willst und was du dort zu tun planst!«, protestierte Tobias.
Sadik lächelte. »Das Rätsel lautet folgendermaßen: Es ist etwas, dem du den Kopf abschlägst und das Herz herausnimmst; gibst du ihm dann zu trinken, so spricht es.«
»Ich möchte, dass du zu mir sprichst- und zwar nicht in Rätseln!«
»Ja, ja, des Menschen Wünsche sind vielfältig und nur die wenigsten gehen in Erfüllung«, zog Sadik ihn auf, schenkte ihm noch ein verschmitztes Lächeln und verschwand zwischen den Büschen.
Im ersten Moment war Tobias versucht ihm zu folgen. Doch er ließ es bleiben. Wenn er nicht wollte, dass er ihn begleitete, musste er das akzeptieren. Zudem hatte er mit dem Hinweis auf sein Vorgehen auf dem Markt von Munderheim nicht ganz Unrecht gehabt, wo er von Sadik Geduld verlangt hatte, ohne ihm vorher eine Erklärung gegeben zu haben.
Nun war er es, der sich in Geduld üben musste. Die Dunkelheit brach herein. Leise plätscherte der Bach über die rundbuckligen, glattgewaschenen Steine seines schmalen Bettes. Auf dem Feld jenseits von Bach und Büschen stritten sich mehrere Raben und das Zirpen von Grillen brachte Tobias nachdrücklich zu Bewusstsein, dass der Sommer mit Macht im Land Einzug hielt.
Er dachte an Jana, während er sich im Gras ausstreckte, den Kopf auf dem Koffer und die Decke als weiches Polster im Nacken. Ob sie Jana wohl finden würden? Er wünschte es sich sehr. Die Wochen, die sie auf Falkenhof verbracht hatte, waren die schönsten gewesen, an die er sich erinnern konnte. Und wie traurig war er gewesen, als sie mit ihrem bunten Kastenwagen schließlich wieder losgezogen war, weil das Leben auf der Landstraße, das ruhelose Umherziehen, nun mal ihre Welt war.
Ja, er hatte Jana in all den Wochen, die seitdem vergangen waren,
sehr vermisst. Auch die unglaublichen Erlebnisse, die sein bisher behütetes Leben völlig auf den Kopf gestellt hatten, hatten Jana nie aus seinen Gedanken drängen können. Sie fehlte ihm sehr. Und das war eine ganz neue, verwirrende Erfahrung für ihn. Denn gleichaltrige Spielkameraden hatte er auf dem Landgut nie gehabt. Auch keine Freunde aus der Umgebung. Früher hatte ihn das nicht gestört, ja es war ihm noch nicht einmal aufgefallen. Das Leben auf Falkenhof war immer ausfüllend gewesen, und er hatte nie den Wunsch gehegt Freunde unter
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