Falkenhof 02 - Auf der Spur des Falken
Entsetzen war sein Blick auf Onkel Heinrich gerichtet, der in einem offenen Nebengelass auf einer hölzernen Streckbank lag. Eisenbänder umschlossen Hand- und Fußgelenke. Von dort führten Ketten zu den Winden am Kopf- und Fußende der Streckbank. Tillmann und Stenz bedienten die Speichenräder und hielten die Ketten straff gespannt. Die teuflische Freude am Foltern war ihren verschwitzten, grinsenden Visagen deutlich anzusehen.
Zeppenfeld stand zwischen ihm und der Streckbank, wie immer makellos gekleidet. Er hielt einen Packen Karten in der rechten und ein mit schwarzem Sand gefülltes Stundenglas in der linken Hand. Rechts von ihm saß ein Falke auf einem Eisengestänge. Sein Schnabel, seine Krallen, sein Gefieder – alles an ihm war von silbriger Farbe. Nur die Augen leuchteten in einem kalten Rot.
Tobias wollte einen Schritt nach vorn tun. Doch da breitete der Falke kurz die Schwingen aus und flatterte einmal und Tobias war, als hielte ihn ein gewaltiger Luftstrom auf der Stelle, obwohl er sich mit aller Macht dagegenstemmte.
Zeppenfeld lachte höhnisch. »Auch wenn dich der Falke ließe, du kannst nicht entkommen. Du bist verloren, Tobias Heller! Ein Schritt – und du stürzt in die Tiefe!«
Tobias richtete den Blick nach unten – und erschrak. Er stand auf einem Gitter, das aus Dutzenden von Falkenstöcken bestand. Doch die Hölzer waren brüchig und ächzten schon unter seinem Gewicht. Und jenseits dieses Gitters gähnte ein bodenloser Abgrund. Ihm wurde bewusst, dass er weder vor noch zurück konnte. Er war so gefangen wie sein Onkel, der den Folterknechten hilflos ausgesetzt war.
»Dein Leben und das deines Onkels liegen in deiner Hand! Jetzt zeige, was du gelernt hast, Tobias!«, rief Zeppenfeld ihm zu. »Doch überlege gut! Eine falsche Antwort und dein Onkel lässt sein Leben dort auf der Streckbank!«
Tobias war zu keiner Antwort fähig. Er sah, wie Zeppenfeld mit dem Daumen die oberste Karte vom Stoß schnippte. Sie segelte durch die Luft, am Falken vorbei, dessen Schnabel jäh vorstieß und die Karte festhielt – und zwar so, dass Tobias erkennen konnte, was auf die Karte gemalt war.
Herz-As!
Der schwarze Sand begann durch das Stundenglas in Zeppenfelds Hand zu rinnen – und dieser Sand war sein Leben und das seines Onkels.
Fieberhaft überlegte Tobias. Wie sahen dafür die Zeichen aus, die Jana ihm beigebracht hatte? Hüfte! Hand in die Hüfte für Herz-As!
»Nicht schlecht!«, hallte Zeppenfelds Stimme durch das Gewölbe, während der Falke die Karte verschlang ohne seinen kalten Vogelblick von ihm zu nehmen. »Du hättest sogar noch etwas Zeit gehabt! Also dann, die nächste Karte!« Er schob die zweite Karte mit einem Daumenstoß vom Packen und wieder schnappte der Falke sie im Flug.
Die Karte trug die Zahl Null.
Tobias öffnete den Mund, bekam erst nur ein heiseres Krächzen heraus und stieß dann hervor: »Verehrtes Publikum! Ich drehe mich mit der Schatulle in der linken Hand zu Jana herum!«
»Gut gebrüllt, Löwe!«, höhnte Zeppenfeld. »Und nun zur letzten und wichtigsten Karte. Denk daran, was für dich und deinen Onkel auf dem Spiel steht!«
Wieder flog eine Karte durch die Luft und landete im Schnabel des Raubvogels.
Entsetzt starrte Tobias auf das Bild, das ihn geradezu ansprang. Diesmal handelte es sich nicht um eine Zahl oder eine andere gewöhnliche Spielkartenabbildung, sondern um genau ein Dutzend Zeilen, die dort auf der Karte geschrieben standen – und die er auch aus gut zehn Schritt Entfernung klar und deutlich lesen konnte: Es war Wattendorfs Gedicht!
Er war wie gelähmt. Wie sahen die Zeichen aus und wie lauteten die magischen Redewendungen für Wattendorfs Gedicht? Warum nur hatte Jana vergessen sie ihm beizubringen?
»Ich warte, Tobias! Und die Uhr läuft!«, mahnte Zeppenfeld drohend.
»Ich kenne sie nicht!«
»O doch, du kennst sie!«, donnerte Zeppenfeld. »Du willst sie nur nicht verraten! Aber glaube ja nicht, dass meine Drohungen leere Worte sind! Ihr werdet sterben! Beide! Also sprich! Dir bleibt nicht mehr viel Zeit!«
Der schwarze Sand fiel in der oberen Hälfte des Stundenglases schon zu einem Trichter zusammen und rieselte auf die schwarze Pyramide in der unteren Hälfte.
Tobias ballte die Hände. »Ich weiß sie nicht! Ich weiß sie nicht! Keiner weiß sie!«, schrie er verzweifelt.
»Du lügst! Heraus mit dem Geheimnis!«
»Ich kenne es nicht!«, gellte Tobias’ Stimme durch das Gewölbe.
»Dann nimm dein Wissen mit in den
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