Falkenhof 02 - Auf der Spur des Falken
Abgrund!«, schrie Zeppenfeld.
Das letzte schwarze Sandkorn glitt durch die gläserne Enge des Stundenglases. Zeppenfeld schleuderte es hinter sich. Es zerschellte auf dem rauhen Steinboden und die Hand voll Sand verwandelte sich in eine riesige Staubwolke, die das Licht der Fackeln verdunkelte, und der Raum mit der Streckbank verschwand hinter einem schwarzen Schleier.
»Nein! Nein!«, schrie Tobias in grenzenloser Todesangst und wollte vom Gitter springen. Doch die Stöcke gaben mit einem lauten Bersten unter ihm nach. Und während er schon in die Tiefe stürzte, sah er, wie sich der Falke erhob und auf ihn zuschoss. Die Schwärze mächtiger Schwingen umfing ihn und Federn legten sich auf seinen Mund und erstickten seine Schreie …
»Tobias! So beruhige dich doch! Es ist nur ein Traum!«
Jana?
Tobias saß aufrecht in seiner Koje und zitterte. Er spürte eine Hand auf seinem Mund. Die Bilder seines gräßlichen Alptraums wichen langsam von ihm.
»Bist du wach?«, erklang Janas besorgte Stimme aus der Dunkelheit und sie nahm die Hand von seinem Mund.
»Ja – ja, ich bin wach«, kam es ihm mühsam über die Lippen. Er fuhr sich über das Gesicht und stellte fest, dass er völlig verschwitzt war.
Jana schlug den Teppich zurück, der vor dem Durchgang zum Kutschbock hing. Sofort hellte sich die undurchdringliche Schwärze im Wohnwagen auf, so dass Umrisse zu erkennen waren. »Du hast im Schlaf geredet und dann geschrien. Du hast mir einen richtigen Schreck eingejagt. War es denn so schlimm?«
Tobias atmete stoßartig aus. »Es war der schlimmste Traum, der mich je verfolgt hat.« Unsinn sprang zu ihm in die Koje und er kraulte ihn, während er ihr erzählte, an was er sich noch erinnern konnte.
»In den ersten Wochen, als ich mich von Helena und Rene getrennt hatte und völlig auf mich allein gestellt war, hatte ich auch schlimme Alpträume. Vermutlich weil ich insgeheim doch Angst hatte, ob ich auch wirklich allein zurechtkommen würde. Das Gefühl von nun an zu niemandem zu gehören und auch auf keinen bauen zu können habe ich am Tag unterdrückt, doch nachts hat mich meine Angst dann häufig umso heftiger überfallen«, gestand Jana. »Aber so entsetzlich wie das, was du mir da erzählt hast, waren meine Alpträume dennoch nicht.«
»So schlimm hat es mich auch noch nie gepackt«, murmelte Tobias.
»Möchtest du was trinken?«
»Ja, bitte.«
Jana holte den Wasserkrug vom Regal, füllte einen Becher und reichte ihn Tobias. Er hielt kurz ihre Hand fest. Die Berührung tat ihm gut. »Danke, dass du mich geweckt hast. Wer weiß, wie tief ich sonst gefallen wäre«, versuchte er zu scherzen.
»Ist doch selbstverständlich«, versicherte sie.
Er leerte den Becher auf einen Zug und atmete danach tief durch. »Ich möchte so gern wissen, wie es Onkel Heinrich geht und ob er die Verwundung gut überstanden hat«, sagte er.
»In zwei Wochen erfahren wir es.«
»Wenn wir Glück haben.«
»Auf Jakob Weinroth ist Verlass«, erklärte sie zuversichtlich. »Er wird kommen, so oder so.«
»Ja, da hast du Recht.« Er drehte den leeren Becher in seinen Händen. »Weißt du, manchmal verfluche ich diesen Spazierstock und auch Wattendorf. Warum hat er meinem Vater nicht einfach geschrieben, was es mit dem verschollenen Tal auf sich hat und wo es zu finden ist? Er wollte doch seinen Verrat damit wiedergutmachen! Weshalb also diese Rätsel?«
»Wer kann schon sagen, was im Kopf eines anderen vor sich geht?«, antwortete Jana mit einer Gegenfrage.
»Hätte Wattendorf nicht den Falkenstock geschickt, wäre das alles nicht passiert und Onkel Heinrich säße jetzt nicht in Mainz im Kerker.«
»Und du nicht hier«, fügte Jana leise hinzu. »Versteh mich nicht falsch. Was deinem Onkel zugestoßen ist, tut auch mir sehr weh, denn ich habe ihm viel zu verdanken. Und es macht mich ganz krank, wenn ich daran denke, dass man ihn wegen ein paar lächerlicher Flugschriften eingekerkert hat. Aber wir haben keine Möglichkeit irgendetwas für ihn zu tun, so bitter das auch ist. Andererseits habe ich es mir immer so sehr gewünscht, dich wiederzusehen – und nun bist du wirklich hier. Muss ich mich schämen, dass ich mich trotz allem darüber freue?«
Ein Lächeln entspannte sein ernstes Gesicht. »Nein, das brauchst du bestimmt nicht.«
»Dann bin ich froh – und traurig zugleich, wie du.«
Er nickte. »Ja, so hat alles seine guten und seine schlechten Seiten«, räumte er ein und lachte auf einmal leise auf. »Weißt du,
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