Falkenjagd: Ein Fall für Robert Walcher (Ein Robert-Walcher-Krimi) (German Edition)
gedeckt, ein Kuchen stand darauf, und die Wohnung duftete nach Kaffee.
Die Lehrerin nahm Rodica bei der Hand und zog sie mit sich in eins der Zimmer. »Hier ist dein Reich, fühl dich wie zu Hause.«
Auf dem Bett saß ein großer Teddybär. Rodica sah die Lehrerin fragend an. Die nickte: »Der gehört dir, mit einem Gruß von meiner Tochter, sie schenkt ihn dir. Mein Mädchen lebt in Amerika, ich habe ihr von dir geschrieben, und sie freut sich sehr, dass du in ihrem Zimmer wohnen wirst. Auch ihre Kleider kannst du anziehen, wenn sie dir gefallen, und ihre Bücher lesen, und alles andere darfst du auch gern benutzen. Und wenn sie uns mal besuchen kommt, was sie schon seit drei Jahren verspricht, dann rücken wir einfach zusammen.«
Rodica saß auf dem Bett und zeigte dem großen Teddybären ihren kleinen Bären. Wo es so große Bären gab, konnten keine schlechten Menschen wohnen, dachte sie, und zaghaft wärmte ein Lichtstrahl ihre traurige Seele. »Uns«, hatte die Lehrerin betont, wenn »uns« die Tochter besuchen kommt.
Hedwig blieb noch einen Tag und eine Nacht bei Simone Nicholescou. Sie schlief auf dem Sofa im Wohnzimmer, denn neben diesem, dem größten Raum in der Wohnung, gab es nur noch das kleine Kinderzimmer, das nun Rodicas Zimmer war, das Schlafzimmer der Lehrerin und eine winzige Küche. Dass es nur eine Toilette pro Stockwerk draußen im Treppenhaus gab, kannte Hedwig von den wenigen noch im Original erhaltenen alten Berliner Mietshäusern. Eigentlich wollte Hedwig in einem Hotel übernachten, aber gegen den Widerstand von Frau Nicholescou kam sie nicht an. So saßen sie dann am ersten Abend um den Tisch im Wohnzimmer und sprachen über alle möglichen Dinge und planten den folgenden Tag.
Den verbrachten sie dann zunächst damit, den Papierkram mit der Stadt-und Krankenhausverwaltung zu erledigen. Dass Hedwig mit ein paar Geldscheinen die ansonsten behäbige Bürokratie beschleunigen konnte, hatte ihr der rumänienerfahrene Kollege geraten. Mit einem kleinen Imbiss feierten sie den vorläufigen Ausbildungsvertrag für Rodica. Danach zeigte Frau Nicholescou ihnen die Stadt und erwies sich als eine ebenso humorvolle wie belesene Führerin. Nur gut, stöhnte Hedwig bald heimlich, dass die Stadtbesichtigung durch ihre Rückreise am nächsten Tag begrenzt war. Unermüdlich führte sie die Lehrerin nämlich durch die Sehenswürdigkeiten von Cluj-Napoca, wie Klausenburg, die Hauptstadt des Bezirks Cluj in Siebenbürgen, offiziell hieß.
Die gotische Michaelskathedrale, das Kunsthistorische Museum im Stadtpalais der Adelsfamilie Bánffy, die Zitadelle, das Nationaltheater, den Opernbau, ja sogar auf den Zentralfriedhof, genannt das »Pantheon Siebenbürgens«, führte sie die Lehrerin, der mangelnde Liebe zu ihrer Heimatstadt ganz sicher nicht unterstellt werden konnte.
Kein Wunder, dass sie nach so viel Kultur am Abend mit geschwollenen Füßen am Tisch saßen und Rodica ihnen bald gute Nacht wünschte und in ihr Zimmer ging.
Bei einem Glas Wein saßen die beiden Frauen noch lange zusammen, und Frau Nicholescou erzählte aus ihrem Leben, von ihrem Mann und über Rumänien. Dabei bekam die Stimme der sonst so lebensfrohen Lehrerin einen wehmütigen Unterton.
»Es zerreißt mir das Herz, mit anzusehen, wie unser Land wirtschaftlich und kulturell ausblutet. Erst hat Ceau¸sescu uns den Lebenssaft aus den Adern gesaugt, jetzt sind es seine gierigen Nachfolger, die Rumänien Stück für Stück an den Westen verkaufen. Holz, Gemüse, Obst, Schuhe, alles karren sie Tag für Tag mit Tausenden von Lastwagen aus dem Land. Auf unseren Märkten liegt nur herum, was dem Westen nicht gut genug ist, und selbst dieses oft ungenießbare, verdorbene Zeug können wir uns kaum leisten. Und jetzt verkaufen wir auch noch unsere Kinder. Wir leben in einem fruchtbaren Land und sind dennoch zu Bettlern geworden. Nichts zählt mehr, unsere Geschichte, unsere Kultur, alles verhökern sie, die Cleveren, die Händler, die Ausverkäufer, und fahren in dicken Autos durchs Land und führen sich auf wie die Fürsten, während die Bauern noch in Pferdewagen auf die Felder holpern. Touristenhotels bauen sie und Pisten für den Wintersport und McDonald᾽s-Paläste und Einkaufstempel, aber das Geld geht am Ende an Konzerne im Ausland. Unsere Leute sind schon froh, wenn sie für einen Hungerlohn die Drecksarbeit machen dürfen.«
Die Lehrerin seufzte tief und bot Hedwig noch ein Glas von dem köstlichen »Cotnari« an. »Selbst
Weitere Kostenlose Bücher