Falkenjagd: Ein Fall für Robert Walcher (Ein Robert-Walcher-Krimi) (German Edition)
diesen feinen Tropfen karren sie außer Landes und machen billigen Weinessig daraus, während wir uns nur den billigen Fusel leisten können, ach, entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie mit meinem Geschwätz belästige, aber …« Ein gellender Schrei aus Rodicas Zimmer unterbrach sie. Sie sprangen auf und hetzten hinüber. Rodica saß mit aufgerissenen Augen auf dem Boden, hineingezwängt in den Spalt zwischen Schrank und Wand und fuchtelte wild mit ihren Armen, so als wollte sie ein Gespenst abwehren. Frau Nicholescou nahm den großen Teddybären vom Bett und drückte ihn Rodica vorsichtig in die Arme, dabei begann sie eine Melodie zu summen.
Rodica schloss die Augen und seufzte, den Teddybär fest ans Gesicht gepresst. Ohne Mühe hob die Lehrerin das Kind auf und legte es behutsam ins Bett zurück, deckte es zu, setzte sich auf die Bettkante und streichelte Rodicas schweißnasse Stirn. Aus der Melodie wurde ein Lied, mit dem die Lehrerin Rodica wohl erreichte, denn ihr Gesicht entspannte sich zu einem seligen Lächeln.
Später, bei einem letzten Gläschen »Cotnari«, standen Frau Nicholescou wieder Tränen in den Augen, als sie sagte: »Schon unter Ceau¸sescu haben sie uns die Kinder genommen und in Heime gesteckt. Die Starken und Gesunden wurden für den Geheimdienst oder das Militär großgezogen, die Schwachen und Kranken sperrten sie »irecuperabili« in Todeslager. Dort wurden sie gequält, missbraucht, oder man ließ sie einfach verhungern. In manchen Heimen gab man ihnen sogar mit Aids verseuchte Blutkonserven. Heute gibt es ungefähr 40 000 Kinder in unserem Land, die inzwischen zu Jugendlichen herangewachsen sind – genaue Zahlen gibt es nicht –, die selbst die eigenen Eltern nicht mehr haben wollen. Viele sind behindert, über 8000 HIV -infiziert und drogenabhängig. Immer noch leben viele auf der Straße. Wenn sich nicht Hilfsvereine aus aller Welt um sie kümmern würden, wären die meisten längst gestorben. Und das Schlimmste ist, dass in unseren Behörden meist noch dieselben Leute sitzen, die unter Ceau¸sescu den Müttern ihre Kinder weggenommen haben. Fünf Kinder musste jede Rumänin in die Welt dieses Wahnsinnigen setzen, obwohl die meisten nicht einmal eines ernähren konnten. Erst nach dem fünften Kind wäre eine Unterbrechung der Schwangerschaft offiziell erlaubt gewesen. Mütterverdienstorden gab es, aber das kennen Sie ja noch von dem Hitler. Meinen Mann sperrte die Securitate in die Psychiatrie, er ist dort verhungert oder von Mitinsassen zu Tode geprügelt worden, das war damals gängige Praxis, um Regimegegner zu liquidieren. Seitdem schlage ich mich als Dolmetscherin durch und gebe Nachhilfeunterricht, um über die Runden zu kommen. Aus dem Schuldienst wurde ich damals entlassen und musste in einem Chemiewerk arbeiten. Meine Witwenrente existiert nur auf dem Papier. Ja«, lächelte die Lehrerin ein trauriges Lächeln, »so ist das in unserem geliebten Rumänien.«
Hedwig schlief schlecht in jener Nacht, und das lag nicht nur an der unbequemen, durchgelegenen Couch. Sie fürchtete den Abschied von Rodica am nächsten Morgen. Ihr war, als würde sie ihr eigenes Kind in einer fremden Welt aussetzen, und dagegen half ihr weder ihre Ausbildung noch die Möglichkeit, Rodica jederzeit besuchen zu können.
Walcher
Nachdem er vergeblich sämtliche Schubladen im Haus durchsucht hatte, fluchte er auf seine verdammte Unordnung und versuchte es missgelaunt in der Garage. Unglaublich, wie viel Zeit für derartigen Kleinkram draufgehen konnte, dachte er und stocherte mit dem Zeigefinger im Werkzeugkasten herum. Vor gut einer halben Stunde war sein Bürostuhl ohne Vorwarnung einen halben Meter abgesackt, einer lächerlich kleinen, gebrochenen Schraube wegen. Nichts hasste Walcher so sehr, wie beim Schreiben aus seinen Gedanken gerissen zu werden, noch dazu in derart heftiger Form. Nachdem er die Ursache entdeckt hatte, machte er sich auf die Suche nach einer Ersatzschraube. Die ersten Schubladen öffnete er in der festen Überzeugung, darin kürzlich eine etwa gleichgroße gesehen zu haben. Dass er kurz darauf einen Beutel mit den übrigen Schrauben des Ikea-Regals aus Irmis Zimmer fand, ließ ihn wenigstens nicht an seinem Erinnerungsvermögen zweifeln, brachte ihn aber nicht weiter, denn die Dinger waren zu dick.
Fluchend setzte er die Suche fort. Walcher dachte an Susanna und an die Einkäufe, die er noch zu erledigen hatte, bevor sie kam. Er hörte ein Geräusch hinter sich und
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