Falkenjagd: Ein Fall für Robert Walcher (Ein Robert-Walcher-Krimi) (German Edition)
mit Holundersirup versetzt und kühl gestellt hatte.
Die Mischung schmeckte so delikat, wie er sich Bärendrecks Badewasser vorstellte, aber Walcher zwang sich Irmi zuliebe, genüsslich kleine Schlucke zu trinken. Außerdem trank er ohnehin zu viel Sherry. Er begann mit den Namen aller Personen, mit denen er seit Beginn seiner Recherchen über Menschenhandel zu tun gehabt hatte, und war erstaunt über die beachtlich lange Liste. Als letzten Namen schrieb er den Comte de Loupin auf das Blatt. Über ihn oder Delwar wollte er eigentlich den Zugang zu einer Händlerorganisation erhalten. Nun waren beide tot, und ob sich über zurückliegende Telefonate von ihnen, Schriftverkehr oder was auch immer neue Kontakte zu ihrer Organisation ergeben konnten, war erst einmal fraglich. Vielleicht tat sich ja etwas über deren Helfer, wie Bertram oder den pädophilen Maskenbildner René Schneider, aber die saßen in Untersuchungshaft und konnten nicht so einfach befragt werden, jedenfalls nicht von einem Journalisten. Blieb die Hoffnung auf seinen Freund Hinteregger, der mit seinem Informationsapparat hoffentlich etwas über die Namen der beteiligten Personen herausfand.
Wer mochte den Comte erschossen haben? Reichte der Arm der Organisation sogar bis in den Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses, oder steckten eher staatliche Interessen dahinter? Möglich war alles, wenn sich schon der Innenminister für einen seiner Beamten so stark machte. Wo saß die Schaltstelle der Organisation? Wer beschaffte die Kinder, schleuste sie über Grenzen, besorgte die Ausweise, und wer waren die Zwischenhändler, an welche Zirkel verkauften sie die Kinder, wo wurden all die Kinder versteckt? Was hatte er inzwischen erreicht? Ein paar Leute sichtbar gemacht, ein paar Kinder gerettet. Das war zwar in Ordnung, aber er wollte mehr. Solange die Nachfrage nach Frischfleisch, nach frischen Hühnchen, wie der Comte sie nannte, bestand, so lange würden sich auch skrupellose Verbrecher finden, die den Markt versorgten. Denn kaum war der eine Ring ausgehoben, übernahm der nächste das Gewerbe. Die Käufer, Kunden, alles Ehrenmänner, sie hielten ein solches System am Leben. Das Marktgesetz von Angebot und Nachfrage galt es zu durchbrechen. Einen Sumpf konnte man nicht mit frommen Gebeten trockenlegen. Die Täter gehörten angeklagt und verurteilt, ohne Rücksicht darauf, ob sie einer Kirche angehörten oder der politischen oder kulturellen Führungsschicht einer Gesellschaft und sich deshalb vor Strafverfolgung geschützt fühlten. Ihnen mussten die Masken der Rechtschaffenheit heruntergerissen werden.
Welchen Schritt sollte er als Nächstes tun?, überlegte Walcher. Oder sollte er abbrechen? Ausreichend Stoff für ein brauchbares Dossier hatte er zusammen. Und richtig abgeschlossen würde diese Recherche ohnehin niemals sein. Außerdem befürchtete er bei diesem Thema seinen emotionalen Sicherheitsabstand zu verlieren, ohne den er journalistische Arbeit für unmöglich hielt. Von der Sinnfrage seines Tuns, die sich ihm während jeder Recherche wenigstens einmal stellte, ganz abgesehen.
Aber wie konnte er in der Gegenwart leben, ohne an eine Zukunft zu glauben, ohne davon überzeugt zu sein, mit seiner Arbeit etwas zu bewegen?
Nein, nach dem, was er im Schloss des Comte erlebt hatte, würde er erst aufhören können, wenn die Täter präsentiert und die Strukturen aufgedeckt waren und das Volk die politischen Führer zum Handeln zwang.
Manchmal musste man sich einen leichten Hang zum Größenwahn einfach zugestehen, schmunzelte Walcher über sich selbst. Vermutlich lag es an Irmis Kräutertee, dass er irgendwann über seinen Gedanken eingedöst war. Er sah Monsieur Mambert leibhaftig inmitten einer Gruppe von Richtern stehen und sich in seiner aufgeblasenen Art gebärden.
Plötzlich stieß Mambert einen schrillen Schrei aus und deutete auf ihn, Walcher. Die Männer in ihren roten Roben drehten sich zu ihm und gingen wie in Zeitlupe im Gleichschritt auf ihn zu. Wenige Meter vor ihm stoppten sie und streckten alle gleichzeitig die Arme in die Höhe. In ihren Händen hielten sie lange, im Kerzenlicht funkelnde Dolche. Da erkannte Walcher in den Richtern die Teilnehmer der Versteigerungen auf dem Schloss des Comte. Eigentlich sollte er sich zurückziehen, dachte er, aber er fühlte sich wie gelähmt. Johannes tauchte hinter den Richtern auf, schwang eine riesige Schweizer Fahne durch die Luft, warf sie hoch in den Raum, und immer höher und höher
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