Falkenjagd: Ein Fall für Robert Walcher (Ein Robert-Walcher-Krimi) (German Edition)
Kontakt aufgenommen hatte. Im Gegensatz zum Franzosen bot der Italiener jeweils immer nur ein Kind an. Dieses Mal war der Mail ein Foto angehängt, auf dem ein Mädchen mit traurigen großen Augen Walcher in einer Art ansah, als würde sie für ein Hilfswerk werben. Das Mädchen war ungefähr zwölf Jahre alt und würde sich vermutlich zu einer außerordentlich schönen Frau entwickeln, wenn sie die Chance dazu erhielt. Spontan leitete Walcher die Mail an Brunner weiter, mit der Frage: Wie wär’s, machen wir mit? Vielleicht kommen wir über Italien in die deutsche Szene? Herzlich Walcher .
Dann fügte er noch die Fragen hinzu, die er ohne den Polizeiapparat unmöglich recherchieren konnte.
P. S. lieber Herr Kommissar, haben Sie eine Erklärung dafür, warum der Anrufer von der Charité aus angerufen hat? Arbeitet er dort? Hat er dort einen Patienten besucht oder jemanden, der dort arbeitet? Wohnt er in der Nähe der Charité? Hat er nur von der Klinik aus angerufen, weil die Telefonzellen im Umkreis defekt sind oder weil es lauter Kartentelefone sind und er befürchtet, dass man ein Telefonat auf seiner Telefonkarte nachweisen kann? Wollte er nur eine falsche Fährte legen? Könnte es sein, dass Jeswita Drugajew von Zürich aus nach Berlin verschleppt wurde, dort also auch meine Visitenkarte gelandet ist? Was meinen Sie dazu? R. W.
Danach lehnte er sich zurück und entschied, für heute Schluss zu machen. Inzwischen fühlte er sich müde, es war kurz nach Mitternacht.
Beinahe wäre er über Rolli gestolpert, der sich angeschlichen hatte und nun hinter seinem Stuhl lag. Walcher war unschlüssig, ob er den Hund schimpfen oder sich über dessen Hartnäckigkeit freuen sollte. Warum ihm überhaupt den ersten Stock verbieten, immerhin lagen nachts seine Familienmitglieder dort oben, während er unten allein schlafen sollte.
Einfuhrvergehen
Das Gezwitscher der Vögel lockte Walcher aus dem Bett, vermutlich trieb sich Bärendreck herum, was die Amseln immer zu besonders schrillen Alarmtönen provozierte. Walcher zog seine Laufsachen an und verließ leise das Haus. Er wollte Irmi nicht wecken, denn ihr Tag begann erst in einer halben Stunde.
Ging er sonst durch die Gartentür der Küche hinaus, wählte er heute die Haustür. Auch ließ er sie nicht offenstehen, sondern zog sie hinter sich zu und kontrollierte, ob das Schnappschloss auch eingerastet war. Nach dem Anruf gestern hielt er das für eine angebrachte Vorsichtsmaßnahme.
Rolli jagte von einem Markierungspunkt zum anderen, um seine Marken, die in der Nacht von allem möglichen Getier angezweifelt worden waren, zu erneuern. Der Hund hatte keinen Blick für das zauberhafte Bild, das sich dem Frühaufsteher bot. Die Spitzen der hohen Berge wurden schon von der Sonne angestrahlt, darunter lag der größte Teil des Allgäus unter einer Nebelbank, nur die Hügelkuppen ragten heraus wie grüne Inseln aus einem weißen Meer, das sich jedoch von Osten her rosa färbte. Walcher wollte sich von diesem Bild nicht lösen und entschied sich, nicht durch den Wald zu laufen, sondern die Wiesenwege rund um den Hof zu nehmen.
Rolli war schon vorausgerannt zum Waldrand, stutzte nur kurz und war Sekunden später bei Walcher und an ihm vorbei die Wiese hinunter im Nebel verschwunden. Dort, einige Meter unterhalb des Bergrückens, wo die Nebelzone begann, standen nämlich die Kühe das Nachbarn, die er unbedingt begrüßen musste. Walcher war kurz versucht, die Kamera zu holen, denn von zwei, drei Kühen ragten nur die Köpfe aus der Nebelschicht, wie gehörnte Fabelwesen aus einer anderen Welt. Aber sie flüchteten den Hang hinunter und tauchten in der Nebelsuppe ab, als sich der Hund näherte.
Walcher genoss das Panorama, auf den Weg brauchte er nicht sonderlich zu achten, den kannte er. Nach etwa einem halben Kilometer hatte er den automatischen Rhythmus von Bewegung und Atmung erreicht, jenen Zustand, der seinen Gedanken ebenfalls freien Lauf ließ. Er liebte und genoss diese Phasen, die er als seine kreativsten Momente des Tages empfand. In diesen Minuten kamen ihm die besten Einfälle, er strukturierte seinen Tag, erinnerte sich an vergessene Dinge, die er erledigen wollte, und fühlte sich eins mit dieser Welt – normalerweise. An diesem Morgen drängten sich immer wieder die ungeklärten Fragen des vergangenen Tages und Bilder von Lisa und Irmi in sein Bewusstsein und verhinderten den freien Gedankenfluss. Walcher lief deshalb nur die kleine Runde und stand schon nach
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