Falkensaga 01 - Der Schrei des Falken
es für heute«, fuhr Thaibor fort. »Diese Rune heißt Purisaz und bedeutet Dorn und so sieht sie auch aus. Aber sie heißt auch Riese, und so sieht sie überhaupt nicht aus!«
Alduin nickte und malte die Rune ab. Sie sah tatsächlich wie ein Dorn am Stängel einer Rose aus.
»Welche andere Bedeutung hat sie? Nein, warte mal, lass mich raten. Ein Dorn kann wehtun. Hat die Rune etwas mit Schmerzen oder mit Kampf zu tun?«
»Nicht schlecht. Sie bedeutet Verteidigung, Schutz und Vernichtung der Feinde - alles, was ein Dorn in Wirklichkeit macht, und dabei verursacht er meistens Schmerzen. Außerdem bedeutet sie, dass man die eigene Macht richtig einsetzt.«
»Wie kannst du das nur langweilig finden?«, fragte Alduin. »Wirklich erstaunlich, welche Bedeutungen so ein kleines Zeichen haben kann. Und die Runen selbst ... diese Zeichnungen hier, sie erinnern mich an etwas: Ich kann es nicht genau erklären, etwas tief Vergrabenes, das unbedingt herauskommen will.«
Thaibor grinste. »Ich merke schon, du wirst mit dem alten Torm ausgezeichnet zurechtkommen. Ich selber bin viel lieber draußen im Freien. Die Sterne und all das sind schon ganz interessant und es gibt nichts Besseres, als im Mittsommer unter dem Sternenhimmel zu liegen. Aber diese Runen ... Ja, ich weiß, sie sind wichtig und ich lerne sie ja auch, aber ich brauche mich nicht unbedingt dafür zu begeistern.«
Er stand auf. »Schreibe die Runen ein paar Mal ab. Die nächsten drei nehmen wir morgen dran.«
»Danke, Thaibor. Du hast mir wirklich sehr geholfen«, sagte Alduin und hob die Faust an die Brust. Dann wandte er sich wieder den Runen zu.
6
Alduin wurde schon bei Morgengrauen vom Hufklappern auf dem Kopfsteinpflaster geweckt. Er blieb eine Weile liegen, starrte an die Decke und fragte sich, was der neue Tag bringen mochte. Sicherlich keine schlechte Idee, wenn er zuerst einmal die neue Atemtechnik übte, die er gestern erlernt hatte. In Zukunft sollte man ihm seine Gefühle nicht mehr so anmerken können wie gestern bei seiner unerwarteten Begegnung mit Lotan - egal, wie sehr man ihn reizte. Leise, um niemanden zu wecken, kroch er aus dem Bett und schlich zu einer kleinen Nische am Ende des Schlafsaals, wo ihn keiner sehen konnte. Nacheinander führte er die verschiedenen Übungen aus, wie er es auch schon vor dem Einschlafen getan hatte. Am Schluss ruderte er noch kräftig mit den Armen.
Als er damit fertig war, hörte er, dass auch die anderen Schüler allmählich aufwachten. Er huschte schnell zurück ins Bett und entdeckte dabei, dass jemand einen Stapel neuer Kleider auf seine Truhe gelegt hatte. Einfache Kleider - zwei eng und gerade geschnittene braune Hosen, zwei knappe Wämser und zwei langärmelige dunkelgrüne Kittel, die auf der rechten Brustseite mit einer Feder bestickt waren - doch dies war die Kleidung eines Raiden-Falknerschülers und es erfüllte Alduin mit Stolz, sie tragen zu dürfen. Behutsam hob er einen Kittel hoch und strich den Stoff glatt. Er war grob gewebt, aber aus weicher Wolle, und als er ihn über die nackten Schultern zog, passte er wie angegossen. Die Hose war ein wenig zu weit für Alduins schlanke Figur. Er zog den Gürtel etwas enger, damit sie nicht rutschte, sprang in die Sandalen, schlüpfte aus der Tür und lief zum Waschraum.
Kurz darauf betrat er den Speisesaal. Tico winkte ihm von der Küchentür aus zu.
»Du hast die Kleider ja schon angezogen! Jungfer Calborth möchte sehen, ob sie dir passen. Komm in die Küche!«
Plötzlich stand Alduin mit seiner neuen Kleidung im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit; Jungfer Calborth schien sehr zufrieden zu sein.
»Wird besser sein, wenn du das hier darüber trägst«, sagte sie, warf ihm eine saubere Schürze zu und gab ihm ein Honigbrot in die Hand.
Alduin konnte sich den Spott lebhaft ausmalen, wenn er gleich am ersten Tag mit einem bekleckerten Kittel im Unterricht auftauchte. Er legte das Brot auf den Tisch und band sich die Schürze um, wobei er schmunzelnd bemerkte, dass sie offenbar für jemanden mit dem zweifachen Körperumfang bestimmt war.
»Vielen Dank, Jungfer!«
Er stellte sich zu Tico an den Herd und sah ihm zu, während er das köstliche süße Brot aß.
»Beim Frühstück geht es hier bei uns ziemlich locker zu«, erklärte Tico. »Es wird im Speisesaal angerichtet und manche essen auch dort, andere nehmen es mit hinaus und setzten sich in die Sonne oder schlingen es auf dem Weg zum Unterricht hinunter. Du kannst jederzeit hier in die
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