Falkensaga 01 - Der Schrei des Falken
Runenunterricht gab es einen eigenen Raum. Alduin setzte sich mit Thaibor und zehn weiteren Jungen an einen langen Tisch. Vor jedem Schüler lag eine Tafel, die mit Bienenwachs bestrichen war; daneben ein Schreibstift und ein Löschroller. An der gegenüberliegenden Wand hing eine große schwarze Schiefertafel, auf der vierundzwanzig Runen mit Kreide aufgemalt waren.
»Meister Torm«, flüsterte Thaibor, als ein gebeugter, älterer Mann in den Raum schlurfte. Sein langer Übermantel war ihm von einer Schulter gerutscht und schleifte auf dem Boden hinter ihm her. Unter dem Arm quoll ein Stapel Pergamentrollen hervor.
»Er ist ein Onur-Gelehrter. Fachmann für alle möglichen Geheimwissenschaften: Bewegungen der Monde und der Sterne, Wetterkunde, Jahreszeitenkunde. Wenn du ihn was fragst und er darauf eingeht, hört er nie mehr auf. Das nützen wir manchmal aus und fragen ihn einfach etwas, nur um ihn für eine Weile von dem langweiligen Schriftzeug abzulenken.«
Um das gleich zu beweisen, hob Thaibor die Hand, lächelte unschuldig und sagte mit ehrfürchtiger Stimme: »Meister Torm, uns ist aufgefallen, dass sich der Silbermond bei jedem Umlauf weiter über den Kupfermond schiebt. Ich würde gern wissen, ob die ungewöhnlich hohen Fluten damit zusammenhängen, über die sich die Fischer beklagen.«
Meister Torms Miene hellte sich sofort auf. Er warf die Schriftrollen auf den Tisch, richtete sich auf und zog seinen Mantel zurecht. Er verwandelte sich so schnell und so vollständig vom zerstreuten Gelehrten in einen selbstbewussten Lehrer, dass sich Alduin fragte, ob dabei Magie im Spiel war.
»Ah ja, sehr interessante Frage«, begann der Meister voller Begeisterung. »Es steht eine Kupfermondfinsternis bevor, und zwar eine höchst ungewöhnliche. Bis sie eintritt, könnte das beträchtliche Auswirkungen auf das Wetter und auf die Gezeiten bedeuten. Möglicherweise werden wir es mit besonders heftigen Orkanen und Sturmfluten zu tun bekommen ...«
Es wurde ein faszinierender Nachmittag. Alduin lernte viele interessante Dinge über Ebbe und Flut, über den Einfluss der beiden Monde auf das Wetter, auf die Geburten, auf den Wachstumszyklus von Pflanzen und sogar auf das Wachstum von Nägeln und Haaren. Seit der Wintersonnenwende bahnte sich am Nachthimmel ein spannendes astronomisches Schauspiel an: Immer weiter schob sich der größere Mond über den kleineren. All das war hochinteressant - aber am Ende hatte Alduin kein einziges Wort über Runen gehört. Nach dem Unterricht rief der Meister Alduin und Thaibor zu sich.
»Alduin, nehme ich an?«
Alduin nickte. »Ja, Meister Torm.«
»Du wirst viel Stoff nachholen müssen. Thaibor könnte dir die Runen beibringen, die wir bisher erlernt haben. Das tust du doch gerne, nicht wahr, Thaibor?«, wandte er sich humorvoll dem Jungen zu. Ganz offensichtlich war dem Lehrer völlig klar, dass Thaibor seinen Plan für den heutigen Unterricht bewusst sabotiert hatte.
Ein Stöhnen kam Thaibor über die Lippen, aber er hielt es für klüger, nicht zu widersprechen. »Natürlich, Meister«, murmelte er.
Mit leicht gezwungenem Lächeln führte der ältere Junge Alduin zu einer der Steinbänke, die um den Hinterhof standen. Er setzte sich und ritzte eine Rune in die Erde, die Alduin auf seiner Wachstafel nachzeichnete.
»Diese Rune heißt Fehu «, erklärte Thaibor und zog einen senkrechten Strich, von dem zwei Querstriche nach oben abzweigten. »Sie bedeutet Vieh und gilt als Zeichen für die eigene Macht, aber auch für Besitz und für die Verantwortung, die sich daraus ergibt.«
Alduin ritzte die Rune sorgfältig auf seine Tafel und überlegte, wie er sich die Bedeutung der Rune am besten einprägen konnte. »Könnte auch eine Kuh sein, mit zwei Hörnern, die in dieselbe Richtung zeigen«, meinte er schließlich.
Thaibor lachte. »Das könnte tatsächlich helfen sich die Rune zu merken.«
Er bückte sich und zeichnete eine weitere Rune. »Hier kommt die nächste: Uruz , der Auerochse. Gewaltige Kraft, Gesundheit, Heilung, das ungefähr bedeutet die Rune.«
Die Zeichnung zeigte eine Art Türöffnung, wobei der waagrechte Balken leicht abwärts verlief. Alduin konnte sich nur schwer etwas darunter vorstellen. Eine Weile betrachtete er die Rune schweigend und überlegte, wie er sich ihre Bedeutung einprägen könne. Je länger er sie betrachtete, desto klarer wurde ihm, dass sie Verlässlichkeit und Wohlbefinden ausstrahlte. Er nickte langsam.
»Noch eine, dann reicht
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