Falkensaga 01 - Der Schrei des Falken
Zeit später kam die Tochter nach Nymath, um den schützenden Nebelvorhang zu erneuern, denn er drohte dünn und durchlässig zu werden. Dann kehrte sie wieder in die andere Welt zurück. Und so ging es seither ohne Unterbrechung weiter. Die Nebelsängerinnen, wie sie genannt werden, tauchen völlig unerwartet auf, aber immer rechtzeitig, um den Vorhang zu erneuern. Würden sie den richtigen Zeitpunkt jemals verpassen, dann ...«
»Und jetzt ist die Nebelsängerin wieder aufgetaucht?«, fragte Alduin gespannt. Instinktiv war ihm klar, dass es das Mädchen mit dem Karottenhaar sein müsse, das er bei der Trauerfeier für Madi Tarai gesehen hatte.
Wie auf Kommando nickten Erilea und die übrigen Freunde aufgeregt.
»Es geschieht sehr selten; manche Leute erleben es nie«, fügte Erilea hinzu. »Wir haben wirklich großes Glück.«
»Aber das ist ... unglaublich!«, rief Alduin begeistert. »Sie kommt aus einer anderen Welt? Das ist ja wie ... ich meine ... Bei allen Göttern! Können wir mit ihr sprechen?«
»Könnte schwierig sein«, erklärte Twith. »Sie ist meistens mit Melethiell und dem Hohen Rat zusammen. Heute Abend soll ein Empfang im Rathaus stattfinden, aber es werden nur wichtige Bürger von Sanforan eingeladen. Meister Calborth wird sicherlich dazugehören. Aber wir ganz bestimmt nicht, fürchte ich.«
»Gibt es denn keine Möglichkeit? Es wäre doch wundervoll, wenn wir mit ihr sprechen könnten. Ich will alles über die Welt wissen, aus der sie kommt!«, rief Alduin aufgeregt und hoffnungsvoll. »Ich frage gleich Meister Calborth!«
»Du kannst es ja mal versuchen, aber mach dir nicht zu viele Hoffnungen«, antwortete Rael. »Der Empfang ist ein ernstes Ereignis, das geht nur die Ältesten an.«
»Aber der Karottenkopf kann doch höchstens drei oder vier Winter älter sein als wir!«, protestierte Alduin.
»Ich dachte, du kennst sie noch nicht?«, fragte Twith misstrauisch.
»Erinnerst du dich, Erilea? Vor Madis Haus. Da stand ein junges Mädchen bei den Elben, ich glaube, das muss die Nebelsängerin gewesen sein. Haarfarbe wie Karotten und wirklich sehr eigenartige Kleider.«
»Ja, das könnte sein«, stimmte Twith zu und Erilea nickte.
»Egal. Ich werde jedenfalls versuchen mit ihr zu reden«, beschloss Alduin und es war ihm anzumerken, wie ernst es ihm war, obgleich er selbst nicht recht wusste, warum.
Sein Entschluss, mit ihr sprechen zu wollen, war bei der Unterhaltung mit seinen Freunden immer fester geworden; klar war ihm eigentlich nur, dass er es unbedingt versuchen musste. Es war ein unbestimmtes Gefühl: als habe er sich lange vom Aufwind hinauftragen lassen und würde jetzt zum Sturzflug ansetzen, das Ziel deutlich vor Augen.
Noch jemand in Sanforan sehnte an diesem Abend eine Gelegenheit für ein Gespräch mit der Nebelsängerin herbei. Malnar gehörte schon seit einiger Zeit zu den wichtigsten Sehern von Sanforan und war deshalb zu dem Empfang eingeladen worden. Jedoch ahnte er, dass es in einer so großen Versammlung sehr schwierig werden würde, mit ihr ein ungestörtes Gespräch zu führen. Seit er sie neben Melethiell erblickt hatte, war Malnar von einer fieberhaften Spannung gepackt worden, die ihm jeden Schlaf raubte. Endlich hatte er die Chance, eine Person kennen zu lernen, in deren Adern die wahren magischen Kräfte flossen. Sie wirkte nicht so unnahbar wie die Elben, sondern eher wie eine ganz normale, junge Frau, und würde möglicherweise bereit sein, mit ihm ein paar Worte zu wechseln. Außerdem stammte sie aus einer anderen Welt! Wie viel Wissen musste sie besitzen - Wissen, das er von keiner anderen Person erfahren konnte. Er musste eine Gelegenheit finden! Schließlich hing die Sicherheit Nymaths nur von ihr ab. Als einer der wichtigsten Seher des Onur-Stammes hatte er die Pflicht, sein Wissen ständig zu erweitern.
Nach dem Mittagessen suchte Alduin sofort nach Meister Calborth. Er fand ihn bei seiner Schwester in der Küche.
»Aber ich brauche heute Abend meine beste Robe!«, jammerte der Falkenmeister gerade. So hatte Alduin ihn noch nie gehört; wahrscheinlich musste er seine Schwester um einen Gefallen bitten.
»Ich hab zu tun!«, gab Jungfer Calborth kurz und bündig zurück. »Such dir jemand anders, der die Nähte herauslässt. Und überhaupt: Warum hast du das nicht schon früher gesagt?«
Alduin erkannte sofort, dass sich hier eine wunderbare Gelegenheit bot, dem Meister einen Gefallen zu erweisen. Calborth würde ihm dann Dank
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