Falkensaga 01 - Der Schrei des Falken
Widerschein der Flammen zuckte über die nach oben gerichteten Gesichter und ließ sie geisterhaft aufleuchten. Bald schon erreichte das Feuer Madi Tarais Leichnam und begann ihn zu verschlingen. Der Glaube besagte, dass ihr Körper mit den Flammen eins würde und im Rauch aus dem Feuer steige. Aus dem Dunkel erklangen traditionelle Abschiedsrufe: Schwinge dich hinauf ... Tanz mit dem Sturm ... Flieg mit dem Wind ... Reise weiter ... Folge deinem Weg ...
Die Trauergemeinde fasste sich an den Händen. Gleichmäßig bewegten sie ihre Körper im Takt und antworteten auf den Gesang, der die Zeremonie begleitete. Sie verstummten erst, als die Flammen in sich zusammensanken. Immer weiter sank der Scheiterhaufen in sich zusammen und versprühte dabei immer wieder Funken, sodass die Leute weiter zurückweichen mussten. Schließlich verabschiedeten sich die Trauernden mit den alten, überlieferten Handzeichen und kehrten allein oder in kleinen Gruppen in die Stadt zurück.
Alduin stand mit gesenktem Kopf neben Erilea, seiner Mutter und Bardelph. Er hörte, dass Erilea Emo murmelte; es war nicht nur der Name der von den Wunand verehrten Göttin, sondern bedeutete auch »So sei es«!. Seine Mutter und Bardelph sprachen leise dasselbe Wort und wandten sich zum Gehen.
Alduin blieb und starrte in das Feuer, das immer weiter in sich zusammenfiel, bis nur noch einzelne Flammen aus der Glut züngelten. Ihm war, als müsse er auf etwas warten: ein Zeichen, einen Hinweis, dass etwas von Madi Tarai noch immer hier sei. Aber er sah nichts als das sterbende Feuer, spürte nichts als die Hitze der Glut.
»Emo«, sagte er schließlich leise und wandte sich ab. Erilea folgte ihm wie ein stiller Schatten.
13
In den ersten Tagen nach Madis Tod fand Alduin nicht den Mut, ihr Haus zu betreten und mit Malnar weiterzuarbeiten. Er hatte den Onur seit der Verbrennungszeremonie nicht mehr gesehen, vertraute aber darauf, dass er Verständnis dafür haben würde und vielleicht sogar dankbar war eine Zeit lang in Ruhe gelassen zu werden. Alduin konzentrierte sich voll darauf, Rihscha gesund zu pflegen. Die Fäden waren bereits gezogen worden und es zeigte sich, dass die Wunde gut verheilte, nur wuchsen die Federn dort nicht mehr so gleichmäßig dicht. Doch Calborth versicherte ihm, dass sich das Gefieder im Laufe der Zeit wieder glätten und später fast nichts mehr zu sehen sein würde. Alles in allem war die Sache noch glimpflich abgegangen. Wenn der Pfeil einen Flügel getroffen hätte ... Aber daran wollte Alduin gar nicht erst denken.
Sieben Tage nach dem Anschlag auf Rihscha konnte Alduin den Falken zum ersten Mal wieder mit ins Freie nehmen. Es war ein trüber Vormittag, an dem sich ein seit langem überfälliger Regen ankündigte. Die Verletzung schien den Vogel nicht weiter zu behindern, denn er hüpfte munter von einer Hand auf die andere, als wolle er prüfen, ob beide Fänge wieder voll belastbar waren. Meister Calborth kam herbei und schien ganz zuversichtlich.
»Rihschas Wunde ist gut verheilt. Heute Nachmittag holst du Bardelph, dann kannst du mit deinem Falken wieder einen Flug wagen.«
Alduin strahlte vor Freude.
Beim Mittagessen war Alduin verblüfft, als er sah, dass sich Bardelph zu Lotan an den Tisch gesetzt hatte. Er selbst setzte sich zu seinen Freunden. Immer wieder blickte er verstohlen zu dem Lehrer hinüber. Er musste zugeben, dass Lotan blass und abgemagert aussah, als sei er tatsächlich ernsthaft krank gewesen. Doch Alduin war noch nicht bereit, davon abzugehen, dass Lotan in irgendeiner Weise mit an Rihschas Verletzung schuld gewesen war. Unverhofft trafen sich die Blicke der beiden, wandten sich aber sofort wieder dem Essen zu.
»Ich war krank«, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihm. Lotan war unbemerkt aufgestanden. Der Junge blickte hoch; er wusste nicht, wie er reagieren solle. Zum Glück hatte er den Mund voll, sodass er nicht sofort antworten konnte. Hatte Lotan erfahren, dass er ihn verdächtigte, und versuchte er sich jetzt zu verteidigen?
»Ich war krank«, wiederholte Lotan und wie zur Bestätigung klang seine Stimme schwach. »Ich ... ich konnte dir noch gar nicht sagen, wie Leid mir das mit Rihscha tut. Es ist furchtbar ...«
Alduin nickte nur; er war immer noch unfähig zu sprechen. Jetzt, aus der Nähe, sah er, dass Lotans Augen von dunklen Ringen umrahmt waren und dass der Lehrer ziemlich stark abgemagert wirkte. Die Knochen unter der Haut traten deutlich hervor. Noch
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