Falkensaga 01 - Der Schrei des Falken
die zum Westtor zogen, doch während alle anderen durch das Tor strömten, bogen Alduin und Erilea in die schmale Gasse ein, die zu Madi Tarais Haus hinaufführte. Dort hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt.
»Das ist der Hohe Rat«, flüsterte ihm Erilea zu und wies mit dem Kopf auf eine Gruppe von Leuten in der offiziellen Kleidung der Stammesabgeordneten, dunkelblauen Samtmänteln mit silbernen Bordüren und dazu passenden Mützen. Sie deutete auf zwei Elben. »Melethiell und ihr Bruder, der Elbenfürst Merdith.« Sie waren von anmutiger Gestalt, schmalgliedrig, mit silberweißem Haar und fein geschnittenen Gesichtern, und von ihnen ging eine Weisheit und ein Ernst aus, die Alduin noch bei keinem anderen Wesen so empfunden hatte, nicht einmal bei Madi Tarai, die die Elben heute ehren wollten.
»Und das Mädchen neben ihnen?«, fragte er neugierig. »Die mit dem Karottenhaar und den komischen Kleidern? Ich hab sie noch nie gesehen.«
Erilea zuckte die Schultern. »Ich auch nicht. Seltsam, dass sie bei den Elben steht.«
In diesem Augenblick traten vier Zitadellenwächter aus Madi Tarais Haustür. Sie trugen die mit Blumen bedeckte Leiche der alten Frau auf einer Bahre in Schulterhöhe. Ihnen folgten Malnar, Bardelph und Aranthia. Madi Tarai, die noch am Morgen so voller Leben erschienen war, wirkte jetzt klein und unscheinbar, nur noch eine leere Hülle. Alduin und Erilea ließen die Bahre an sich vorbeiziehen, dann schlossen sie sich Aranthia an. Der kleine Trauerzug bewegte sich in ehrfürchtigem Schweigen durch die Gasse zum Westtor. Ein paar Leute standen unter den Haustüren oder schauten aus den Fenstern; die meisten jedoch waren entweder schon zur Verbrennungsstätte vorausgegangen oder schlossen sich jetzt den Trauernden an. Die Prozession verlief still, von dem Geräusch der Schritte auf dem Pflaster, unterdrücktem Weinen und gelegentlichem Gebetsmurmeln abgesehen. Ab und zu erhob sich eine einsame Stimme zu einem Klagelied und verklang auch schon gleich wieder.
Erneut verspürte Alduin das Gefühl tiefen Friedens, das ihn kurz vor dem Einschlafen überkommen hatte. Es war, als durchlebte er einen Traum; er schien weder die Menschen um ihn herum noch das Straßenpflaster unter den Füßen wahrzunehmen. Er schloss beim Gehen die Augen; er vertraute auf seine innere Kraft und wusste, dass er nicht stolpern würde. Es war, als könne er Madis Stimme hören, die dieselbe Melodie summte, die er in ihrem Raum und auf den Klippen gehört hatte. Doch jetzt verstand er immer deutlicher die Worte
»... eines Tags werde ich folgen ...
zu fernen Gestaden ...
weit jenseits der Wolken
dort werden wir jagen
weit werde ich sehen
durch die Augen des Falken ...«
Er öffnete die Augen und blickte kurz über die Schulter. Seine Nackenhaare hatten sich gesträubt und er hatte plötzlich deutlich gespürt, dass ihn jemand beobachtete. Beinahe wäre er gestolpert, als er dem offenen Blick Melethiells begegnete; sie nickte ihm unmerklich zu. Ihr Blick erinnerte ihn unerklärlicherweise an die Augen der Falkenmutter, die ihm Rihscha anvertraut hatte. Das Mädchen mit den Karottenhaaren neben ihr lächelte ihm kurz zu.
Er wandte sich wieder nach vorn zur Bahre, versuchte die friedliche Stimmung vom Mittag wieder zurückzuholen, doch sein laut und heftig pochendes Herz lenkte ihn ab. Nur allmählich beruhigte es sich. Erilea berührte seine Hand und sah ihn fragend an. Er lächelte ihr zu.
Der Trauerzug hatte das Westtor erreicht, zog auf die Ebene vor der Stadtmauer hinaus und wandte sich nach links zu den Klippen, wo ein gewaltiger Scheiterhaufen errichtet worden war. Unzählige Menschen hatten sich versammelt; einige trugen brennende Fackeln in den Händen. Alduin und Erilea blieben in der Menge stehen. Die Zitadellenwächter trugen die Bahre bis zu dem Holzstapel. Einer stieg die Leiter hinauf, die dort lehnte, und die übrigen hoben die Bahre hoch, sodass er sie leicht hinüberschieben konnte.
Ein einsamer Sänger stimmte den Trauergesang an und immer mehr Stimmen fielen ein. Die Fackelträger traten vor und übergaben ihre Fackeln den Ratsmitgliedern, die sich in gleichmäßigen Abständen rings um den Scheiterhaufen aufgestellt hatten und ihn nun gleichzeitig in Brand steckten. Das trockene Holz fing sofort Feuer und eine plötzliche Hitzewelle ließ die Umstehenden schnell zurückweichen.
Das Knistern des Feuers steigerte sich zu einem wilden Getose, das den Gesang übertönte. Der
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