Falkensaga 02 - Im Auge des Falken
wurde bedeutungslos. Ebenso gut hätte sie vor dem Unterschlupf auf den Ebenen über den Boden kriechen können. Die Verspannung in ihren Muskeln löste sich, und sie fühlte sich fast so, als würde sie schweben.
Der Wind war abgeflaut. Sie hob den Kopf. Die Strähnen hingen ihr ins Gesicht, aber das war bedeutungslos geworden, denn direkt vor ihr lag das Ende des Aufstiegs. Hier wurde der Fels zu einer Kuppe, bevor er wieder zum See hin abfiel.
Rechts und links tauchten kleine Büsche auf, die ihr Halt gaben, und dann sah sie die Hand über ihr. Alduin zog so kräftig an, dass sie die letzten Schritte förmlich emporflog und in seinen Armen landete. Erschöpft umklammerten sie einander und spürten gegenseitig den Herzschlag des anderen. Schließlich ließen sie einander los und sahen sich um.
Vor ihnen breitete sich der See aus, umsäumt von einem Kieselstrand. In weiter Ferne und genau in der Mitte lag eine große Insel. Stumm tauschten sie einen Blick, als erwarteten sie eine Bestätigung für das erreichte Ziel.
»Irgendetwas stimmt hier nicht«, sagte Alduin mit Zweifel in seiner Stimme. »Was meinst du damit?«, fragte Erilea.
»Nun, zum einen ist mir die Insel in meiner Vision näher und nicht so groß vorgekommen. Außerdem ist diese hier von dichtem Wald bedeckt. Ich glaube mich zu erinnern, dass auf der anderen nur ein paar Felsen waren, sonst nichts.«
»Bäume können wachsen in fünfzehn Jahren«, meinte Erilea und sah über das Wasser. »Außerdem hast du gesagt, dass es dunkel war. Vielleicht hast du den Wald nicht gesehen.«
»Wahrscheinlich hast du recht«, gab Alduin zu. »Die Sonne ist gerade erst untergegangen. Vermutlich bilde ich mir das nur ein.«
»Wie kommen wir auf die andere Seite?«, fragte Erilea.
»Wir müssen herausfinden, wo die Insel dem Ufer am nächsten liegt. Und dann bleibt uns nichts anderes übrig, als zu schwimmen. Rihscha soll die beste Stelle auskundschaften.«
»Schwimmen?« Erilea klang entsetzt. »Ich kann nicht schwimmen.«
Überrascht sah Alduin sie an.
»Was meinst du damit? Soll das heißen, dass du zu müde bist, oder weißt du nicht, wie es geht?«
Erilea schüttelte den Kopf.
»Ich habe es nie gelernt.«
Ein Augenblick der Stille folgte - ein Moment, in dem sich etwas veränderte, etwas, für das es keine Worte gab. Sie beide spürten es, und doch zuckte Alduin mit den Schultern und sagte leichthin: »Vielleicht ist der See so seicht, dass wir hinüberwaten können.«
Er ging zu Rihscha, der am Wasser kauerte, und gab ihm Anweisungen, das Ufer abzusuchen. »Flieg los, mein Freund.«
Rihscha erhob sich in die Lüfte und flog mit steten Schwingenschlägen über das Wasser. Sein Spiegelbild glitt über die glasklare Wasserfläche. Alduin schloss die Augen. Schnell hatten sie herausgefunden, dass der See in Inselnähe nicht so tief war wie weiter vorne. Selbst in der hereinbrechenden Dämmerung konnte Alduin den Grund deutlich erkennen. Vielleicht brauchten sie nicht zu schwimmen.
Alduin brach die Verbindung ab und wandte sich Erilea zu. »Wir könnten Glück haben«, sagte er. Aber zuvor müssen wir ein ordentliches Stück um den See herummarschieren. Wir können die Nacht am Ufer verbringen und morgen versuchen, auf die andere Seite zu kommen.«
Sie brachen auf und gingen über den Kieselstrand. Bevor die Nacht sich vollends herabsenkte, beleuchteten die beiden Monde Nymaths den Himmel. Schon in der nächsten Nacht würden sie voll sein, und sie tauchten das Land in ihre silbrigen und kupferfarbenen Schattierungen. Es war eine kristallklare und friedliche Nacht. Kein Nebel verhüllte die Insel, und das Tosen des Wasserfalls war nur als gedämpftes, fernes Grollen zu vernehmen. Jeder Baum, Busch, Felsblock und Kiesel warf seinen eigenen Schatten, ein wundersamer Bildteppich, gewoben aus allen erdenklichen Formen.
Der See war weitaus größer, als sie zunächst vermutet hatten. Beide waren erschöpft vom Aufstieg. Als sie eine kleine Baumgruppe erreichten, wo der Kieselstrand in ein Moosbett überging, nickten sie sich stumm zu, holten ihre Decken hervor und rollten sich Seite an Seite zum Schlafen zusammen.
14
Die aufgehende Sonne lugte bereits über die Hügel, als Alduin und Erilea am nächsten Morgen erwachten. Sie hatten tief und traumlos geschlafen und fühlten sich frisch, für alles bereit, was vor ihnen liegen mochte.
In der klaren Luft lag die Insel in der Mitte des Sees. Mit einem Mal schien sie ganz nah zu sein. Vögel
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