Falkensaga 02 - Im Auge des Falken
entlang dem Fluss. Es dauerte nicht lange, bis er in ein breites Becken mit schäumendem Wasser mündete.
Der Anblick war atemberaubend. Gerade voraus stürzte der Fluss riesige Stufen herab, spritzte fächergleich über moosbewachsene Felsen und krachte mit einem Geräusch gleich tausend Pferden in gestrecktem Galopp in das Becken. Zu beiden Seiten ergoss sich ein kleiner Fluss in den Mangipohr - links milchig weißes Wasser, das eisig vom Pandarasgebirge im Norden herabfloss, rechts offensichtlich wärmeres Wasser aus den Seen entlang der hügeligen Fath-Halbinsel im Süden. Gemeinsam bildeten die Wassermassen im Flussbett Wirbel und Wogen, fast wie in einem riesigen Kessel, in dem Wasser siedet. Feiner Sprühnebel lag über dem Becken gleich dem Dampf, der über einem magischen Zaubertrank wabert.
Alduin und Erilea schwiegen voller Ehrfurcht, während sie den Kessel umritten, bis sie schließlich an eine Stelle gelangten, an der sich der Sims zu einem Sockel im Hang des Hügels verbreiterte. Zu ihrer großen Überraschung sahen sie ganz hinten eine schlichte Holzkate, die von einer eingezäunten Grasfläche umgeben war.
»Das glaube ich ja nicht!«, rief Erilea über das Tosen des Wassers hinweg. »Hier lebt tatsächlich jemand?«
»Ich denke nicht«, antwortete Alduin und lenkte Fea Lome in Richtung der Hütte. »Das sieht mir vielmehr nach einem Unterschlupf aus.«
Er stieg ab, öffnete das klapprige Tor und führte die Stute hindurch. Gleich darauf glitt die junge Amazone aus dem Sattel, und Rihscha landete auf dem Dach.
Die Kate war nicht mehr als ein quadratischer Raum, doch sie war solide gebaut, spärlich möbliert mit einem Bett, einem Tisch, einem Stuhl und überraschenderweise einer Hockstange für einen Falken. Auf einer Anrichte stand eine dicke Talgkerze, auf dem Boden lag eine Binsenmatte. So seltsam all dies sein mochte, so war doch das Ungewöhnlichste ein Bild, geschnitzt in die Holzwand neben dem Bett. Es stellte den Zyklus der beiden Monde Nymaths dar, wie sie abnahmen und zunahmen. Unter jede Phase waren Striche ins Holz gekratzt worden, tiefere und flachere. Doch je mehr sich der Zyklus zum Vollmond hin näherte, desto häufiger wurden die Markierungen.
»Das muss ein Ort sein, an dem Falkner auf etwas gewartet haben«, sagte Alduin. »Ich frage mich nur, worauf?«
»Vielleicht auf irgendein Zeichen«, vermutete Erilea. »Vielleicht wussten sie nicht so viel wie du. Ich meine, du hattest Verbindung mit Krath und konntest sehen, wohin er flog.«
»Wahrscheinlich hast du recht«, pflichtete Alduin ihr bei. »Ich sehe keinen Grund, hier auf etwas zu warten. Wir werden jedoch Fea zurücklassen müssen - und auch den Großteil unserer Ausrüstung.«
»Wie wollen wir hinauf zum See gelangen?«, fragte Erilea.
»So wie die anderen«, gab Alduin zurück. »Es muss einen Weg geben. Wir müssen ihn nur finden.«
Sie sattelten Fea ab. Hier würde sie in Sicherheit sein und ausgiebig grasen können.
Alduin packte die Zunderbüchse, seinen Falknerhandschuh und eine Schlafdecke zusammen, Erilea etwas getrockneten Proviant, den Wasserbeutel, ihre eigene Decke und ihre Waffe.
Als sie die Kate verließen, rief Alduin Rihscha zu sich. »Sieh zu, ob du den Weg für uns finden kannst!«
Der Falke erhob sich in die Lüfte, und Alduin nahm Verbindung mit ihm auf. Als der Vogel in spiralförmigen Kreisen aufstieg, stockte Alduin fast der Atem. Soweit er und Rihscha in Nymath auch gereist waren, etwas derart Schönes hatten sie noch nie gesehen. Durch die stetig wechselnden Winkel zeichneten sich Regenbögen im Sprühregen ab - bald als ein flüchtiger Bruchteil, bald in ihrer vollen Farbenpracht.
Rihscha stieß durch den feinen Nebel und suchte das Ufer ab. Und tatsächlich, ein kurzes Stück stromaufwärts der kleineren Mündung entdeckten sie eine Seilbrücke, die über die Schlucht gespannt war. Alduin hatte die Verbindung mit Rihscha abgebrochen und rief: »Komm mit, da geht's lang.«
Erilea folgte ihm wortlos. Sie war dankbar, dass sie nicht bei der Stute bleiben musste, doch im gleichen Moment spürte sie, dass der unausweichliche Augenblick kommen würde, in dem er sie zurücklassen würde.
Sie gingen hinüber zu der Stelle, an der sich der Fluss linker Hand in das Becken ergoss. Von dort aus würde der Aufstieg nicht allzu schwierig werden. Als sie den felsigen Hang aufstiegen, stand die Nachmittagssonne noch hoch genug am Himmel, um ihnen die Rücken zu wärmen, während die aufsteigende
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