Falkensaga 02 - Im Auge des Falken
Kind vorzustellen. Wie hatte sie wohl in diesem Haus, in der geschäftigen Welt Sanforans gelebt? Es war für ihn nur schwer vorstellbar.
Rael schlug den kurzen Pfad zur Vordertür ein und klopfte. Erst regte sich nichts, doch dann bemerkte er eine leichte Bewegung hinter einem der Vorhänge. Wenige Augenblicke später hörte er auf der anderen Seite der Tür leise Schritte.
»Wer ist da?«, erkundigte sich eine Männerstimme.
»Rael, Falkner von Nymath. Ich bin auf der Suche nach Neuigkeiten über Garan und seine Familie.«
Die Tür öffnete sich gerade so weit, dass er eintreten konnte. Dann wurde sie hinter ihm rasch wieder geschlossen. Der Mann, der im Schatten stand, schien der Hausdiener zu sein. Er wirkte sehr alt und war auch nicht in bester körperlicher Verfassung. Er legte seine zittrige Hand zum Gruß auf die Brust und verneigte sich.
»Mein Meister ist nicht zu Hause«, erklärte er. »Wenn Ihr möchtet, könnt Ihr in der Küche warten, er sollte bald zurückkehren.«
Rael stutzte. Mit allem hatte er gerechnet, nicht aber damit, dass der Herr des Hauses in der Stadt war. Neugierig folgte er dem Diener durchs Haus. Dabei fiel ihm auf, wie leer und verlassen die Räume doch wirkten. Die wenigen Einrichtungsgegenstände waren mit einer dicken Staubschicht überzogen, und die Möbel wirkten mehr als altmodisch. Auch die Küche war nur mit dem Allernotwendigsten ausgestattet. Am Fenster stand ein Tisch mit drei Stühlen, an der kurzen Seitenwand eine Anrichte, gegenüber ein großes Spülbecken und ein Wasserfass. Auf der Feuerstelle köchelte ein Eisentopf, in dem eine gebückte, alte Frau emsig rührte. Sie bedachte Rael mit einem freundlichen Lächeln.
»Möge die Gnade Gilians mit Euch sein, Falkner«, sagte sie und bedeutete ihm, sich zu setzen. »Womit können wir Euch dienen?«
»Äh ... der gute Mann hier meinte, Euer Meister würde bald nach Hause kommen. Ich möchte mit ihm sprechen«, antwortete Rael und setzte sich.
Ein Schatten des Kummers huschte über ihre Züge, und sie schüttelte den Kopf.
»Ich fürchte, mein Gemahl lebt in der Vergangenheit«, sprach sie. »Meister Garan ist vor langer Zeit von uns gegangen, und wir wissen nicht, ob er je wieder zurückkommt. Dasselbe gilt für Meister Lotan. Wir tun unser Bestes, hier alles in Ordnung zu halten, aber es wird zunehmend schwieriger. Wir sind beide nicht mehr die Jüngsten.«
»Soll das heißen, Ihr wisst nicht, wo Garan sich aufhält? Oder ob er überhaupt noch am Leben ist?«
»Oh, wäre er verstorben, hätten wir das gewiss erfahren«, entgegnete sie, als wäre die Vorstellung undenkbar, den Amtsführern von Sanforan könnte ein Fehler unterlaufen sein. »Meister Lotan hat nie etwas gesagt. Und als er aufbrach, wollte er sich auf die Suche nach seinem Vater machen.«
»Das hat Lotan gesagt? Wann?«
»Nun ...« Die Frau verstummte kurz und versuchte sich zu erinnern. »War es vor zwei oder drei Frühlingen? Ich bin nicht sicher. Er war sehr krank, aber die Jungfer oben in der Falkenhalle hat ihn über den Berg gebracht ... Ihr müsst wissen, er hat nicht hier gewohnt ... Er lebte dort ...«
Rael nickte.
»Ja«, ich weiß. Er war mein Bogenschützenlehrer.«
Sie lächelte, und ihre Augen füllten sich mit Erinnerungen. »Er war ein so süßes Kind. So hübsch und so klug. Es war für alle ein herber Schlag, dass er nicht auserwählt wurde. Aber wie ich höre, war er ein hervorragender Lehrer.«
»Ja«, sagte Rael und versuchte, sie sanft: auf die jüngere Vergangenheit zurückzulenken.
»Ihr habt also gesagt, er kam hierher zu Euch, bevor er Sanforan verließ?«
»Ja, richtig. Eines Tages ist er hier aufgetaucht. Er war blass und völlig abgemagert. Er meinte, er müsste die Stadt verlassen, um auf dem Land wieder neue Kräfte zu sammeln. Und bei der Gelegenheit wollte er nach seinem Vater zu suchen.«
Das offenherzige Gebaren der Frau ließ keinen Zweifel daran, dass ihr Lüge oder Täuschung fremd waren. Offenbar zweifelte sie weder an Lotans Worten noch an seinen guten Absichten. Dennoch kam es Rael eigenartig vor, dass ein so herzenswarmer Mensch tatenlos mit ansehen konnte, wie die Tochter des Hauses in viel zu jungen Jahren in eine Ehe verkauft wurde. Er konnte sich nicht mehr zurückhalten. Er musste sie danach fragen.
»Und Lotans Schwester: Wisst Ihr etwas über sie?«
Wieder lächelte die Frau mit unschuldiger Miene.
»Natürlich. Mir sind zwar keine Einzelheiten bekannt, aber soweit ich weiß, ist sie gut
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