Fallen Angels 01 - Die Ankunft
hätte, hätte sie die Kirche schon wieder verlassen.
»Eins vierzig? Verflucht noch mal …«
Er ballte eine Faust und wollte das Funkgerät schon durch einen Schlag zum Schweigen bringen. Seinen Jähzorn zu zügeln fiel ihm schwer. Schon immer. Aber er ermahnte sich, dass er das Taxi irgendwann wieder abliefern müsste, und ein kaputtes Gerät hieße, dass er sich mit der Zentrale herumschlagen müsste.
Er musste Konflikte vermeiden. So etwas ging sowohl für ihn als auch für die andere Person nie gut aus. Das hatte er inzwischen gelernt.
Und er hatte große Pläne.
»Bin schon unterwegs«, sprach er also ins Funkgerät.
Dann müsste er eben warten, bis er sie im Club sah, obwohl er sich um ihren Kirchenbesuch betrogen fühlte.
Marie-Terese saß im Keller der St.-Patrick’s-Kathedrale auf einem Plastikstuhl, auf dem ihr der Po wehtat. Links von ihr hatte eine Mutter von fünf Kindern Platz genommen, die ihre Bibel immer in der Armbeuge wiegte wie einen Säugling. Rechts hockte ein Mann, der bestimmt Automechaniker war: Seine Hände waren zwar sauber, aber unter den Fingernägeln klebte immer ein schwarzer Rand.
In dem Kreis saßen noch zwölf weitere Leute, außerdem war ein Stuhl leer, und Marie-Terese kannte jeden Einzelnen im Raum, selbst den, der heute fehlte. Nachdem sie sich die Lebensgeschichte eines jeden von ihnen unzählige Male angehört hatte, kannte sie ihre Stimmen und Gesichter, konnte die Namen von Ehemännern, Ehefrauen und Kindern herbeten, falls es welche gab, kannte die Schlüsselereignisse, die ihre Vergangenheit jeweils geprägt hatten, und besaß Einblick in die dunkelsten Winkel ihres Innersten.
Seit September ging sie zu diesem Gebetskreis; gefunden hatte sie ihn über den Zettel am Schwarzen Brett in der Vorhalle der Kirche: Die Bibel im Alltag, Dienstag und Freitag, 20:00 Uhr.
Heute Abend drehte sich das Gespräch um das Buch Hiob, und die Schlussfolgerungen lagen auf der Hand: Jeder sprach von den gewaltigen Anstrengungen und Mühen, die er zu leisten hatte, und von seinem Vertrauen darauf, dass sein Glaube ihn belohnen und Gott ihn in eine blühende Zukunft führen würde - solange er nur fromm bliebe.
Marie-Terese beteiligte sich nicht. Sie beteiligte sich nie.
Im Gegensatz zur Beichte suchte sie hier in diesem Keller nicht das Gespräch: Es gab keinen anderen Ort in ihrem Leben, wo sie wenigstens halbwegs normale Menschen treffen konnte. Im Club ganz bestimmt nicht, und abgesehen von der Arbeit hatte sie keine Freunde, Verwandte, niemanden.
Deshalb kam sie also jede Woche hierher und saß in diesem Kreis und bemühte sich, wenigstens ganz am Rande eine Verbindung zum Rest des Planeten herzustellen. Denn im Augenblick hatte sie das Gefühl, an einer fernen Küste zu stehen und quer über einen tobenden Fluss auf das Land der Braven Bürger zu schauen. Es war nicht so, dass sie ihnen etwas missgönnte oder sie belächelte. Ganz im Gegenteil - sie versuchte, Kraft aus diesen Begegnungen zu schöpfen, dachte, dass sie vielleicht, wenn sie dieselbe Luft wie diese Leute atmete, denselben Kaffee trank und sich ihre Geschichten anhörte … dass sie dann vielleicht eines Tages wieder zu ihnen gehören würde.
Insofern waren diese Treffen also nicht einmal eine religiöse Angelegenheit für sie, und im Gegensatz zu der fruchtbaren Glucke neben sich mit ihrer demonstrativ gehaltenen Bibel blieb Marie-Tereses Buch der Bücher in ihrer Handtasche, ja, sie hatte es überhaupt nur für den Fall dabei, dass jemand sie fragen sollte, wo es war. Gut, dass es nur eine Miniausgabe in der Größe einer Handfläche war.
Stirnrunzelnd überlegte sie, wo sie das Ding gefunden hatte. Irgendwo in den Südstaaten, in einem Tante-Emma-Laden in … Georgia? Alabama?
Damals hatte sie die Spur ihres Ehemannes verfolgt und etwas gebraucht - irgendetwas, um die Tage und Nächte zu überstehen, ohne den Verstand zu verlieren.
Wie lange war das jetzt her, drei Jahre?
Kam ihr vor wie drei Minuten, und gleichzeitig wie drei Jahrhunderte.
Mein Gott, diese furchtbaren Monate. Sie hatte gewusst, dass es schrecklich würde, sich von Mark zu trennen, aber wie schlimm es wirklich werden würde, hatte sie nicht geahnt.
Nachdem er sie zusammengeschlagen und Robbie entführt hatte, war sie zwei Nächte im Krankenhaus geblieben, um sich von dem zu erholen, was Mark ihr angetan hatte, und dann hatte sie sich einen Privatdetektiv gesucht und seine Verfolgung aufgenommen. Es hatte den gesamten Mai, Juni und
Weitere Kostenlose Bücher