Fallen Angels 03 - Der Rebell
Weit in der Ferne machte er Colins niedriges Zelt vor den Bäumen aus, das aus schweren Wollbahnen und gedrungenen Pfosten bestand. Anders als Nigels Zufluchtsort war es klein und bescheiden. Keine Seide. Kein Satin. Keine luxuriöse Ausstattung: Der Erz engel badete in dem rauschenden Bach hinter seiner Wohnstätte und schlief auf einer einfachen Pritsche. Eine einfache Decke. Keine Kissen. Zur Unterhaltung nichts als Bücher.
Das alles war der Grund, warum Nigel darauf bestanden hatte, dass sie seine Unterkunft teilten, und der andere Erzengel war im Prinzip schon vor Ewigkeiten bei ihm eingezogen.
Ja, als er nun vor dem Zelt stand, fiel Nigel auf, dass er noch nie eine »Nacht« hier verbracht hatte. Es war immer Colin gewesen, der den Ort gewechselt hatte.
Wann war er überhaupt zum letzten Mal hier gewesen?, überlegte Nigel.
Kein Eingangspfosten, um zu klopfen.
»Colin?«, fragte er leise.
Da keine Antwort kam, wiederholte er den Namen. Und noch einmal.
Innen schien kein Licht zu brennen, also rief sich Nigel eine Leuchte in die Hand und ließ sie aufflackern, um mehr zu sehen. Er zog die Plane beiseite und ging mit ausgestrecktem Arm in das dunkle Zeltinnere.
Leer.
Hätte man es nicht besser gewusst, hätte man glauben können, es sei eingebrochen worden. So wenig Zeugs gab es dort drinnen. Nur dieses Feldbett mit der Truhe am Fußende. Ein paar in Leder gebundene Bücher. Eine Öllampe. Als Fußboden lediglich das Gras, nicht einmal ein gewebter Vorleger.
Berties und Byrons Gemächer, die am entgegengesetzten Ende der Mauer lagen, waren so luxuriös wie Nigels eigene, nur eben ihren persönlichen Geschmäckern gemäß ausgestattet. Und Colin hätte mehr als das hier haben können.
Colin hätte die Welt haben können.
Nigel machte auf dem Absatz kehrt, verließ das Zelt und ging zum Bach. An Zweigen hingen Handtücher, auf dem sandigen Ufer waren Fußspuren zu sehen.
»Colin …«, flüsterte er.
Der Klang seiner eigenen untröstlichen Stimme war es, die ihn aufrüttelte.
Ganz unvermittelt erschreckte ihn seine Verzweiflung und veranlasste ihn, seinen Entschluss, hierherzukommen, im Licht der Realität des Krieges neu zu betrachten: Er dachte an Jim und Adrian und ihre Schwächen – Schwächen, die von der anderen Seite aufgespürt und ausgenutzt wurden.
Er selbst war schwach, wenn es um Colin ging. Was bedeutete, dass er über eine ungeschützte Flanke verfügte.
Urplötzlich schnellte Nigel herum und eilte davon, raffte seinen Morgenmantel und seinen Stolz zusammen und ließ sich von seinen Füßen durch die Nacht tragen.
Vom Ziel seiner eigenen Gemächer durfte er nicht noch einmal abweichen.
Er war nicht Adrian. Er würde sich nicht verlieren … wie Adrian. Und er würde sich nicht von seinen Gefühlen beeinträchtigen lassen wie Jim.
Die Pflicht verlangte nach Abkapselung und Stärke.
Und der Himmel konnte sich weniger als das nicht erlauben.
Sechsundzwanzig
Am folgenden Morgen saß Veck an seinem Schreibtisch und starrte über seinen Kaffeebecher hinweg Bails an. Der Kerl redete wie ein Maschinengewehr, seine Mimik war lebhaft, die Hände beschrieben Kreise.
»… das ganze blöde Ding in die Luft geflogen.« Bails hielt inne und winkte dann vor Vecks Nase herum. »Hallo? Hast du mich gehört?«
»Sorry, was?«
»Das gesamte Erdgeschoss der Bank auf der Trade Street, Ecke Dreizehnte liegt auf der Straße rum.«
Veck schüttelte sich. »Was soll das heißen, liegt auf der Straße?«
»Die Scheiben sind alle geplatzt. Da stehen nur noch die Stahlrahmen. Ist irgendwann vor Mitternacht passiert.«
»War es eine Bombe?«
»Die krasseste Bombe, die man je gesehen hat. Kein Schaden in der Lobby – na ja, ein paar Stühle sind umgekippt, aber kein Anzeichen einer Detonation, keine Spuren einer Druckwelle. Auf dem Boden haben sie etwas komische Farbe gefunden, so was Glänzendes, sah aus wie Nagellack, und es hat gerochen wie im Blumenladen. Aber abgesehen davon: nichts.«
»Wurden schon die Aufzeichnungen der Überwachungskameras geprüft?«
»Worauf du dich verlassen kannst, und rate mal, was das ergeben hat: Die Anlage ist gegen elf Uhr komplett ausgefallen.«
Veck runzelte die Stirn. »Einfach tot?«
»Mausetot. Obwohl in der Gegend keine Stromschwankungen gemeldet wurde. Die Beleuchtung in der Lobby hat offenbar auch versagt, obwohl die sonstige Elektrik – einschließlich der Alarmanlage und dem Computernetzwerk – abgesehen davon überhaupt nicht beeinträchtigt war.
Weitere Kostenlose Bücher