Fallende Schatten
Stimme wies er die Umstehenden an, weder die Leiche noch sonst etwas anzufassen. »Ich fahr nach Donnybrook rauf und hol die Gardaí«, verkündete er. Mr. Kelly kam aus Mayo und sprach meistens irisch; alle anderen sagten »Polizei«. Oder die »Wache«. Er war Gepäckträger bei der Bahn gewesen, mittlerweile pensioniert und reichlich eingebildet. Und stets trug er seine alte Gepäckträgermütze. Auch jetzt hatte er sie auf. Damit verbarg er seinen alten Kahlschädel, das wußte Lily, denn sie hatte einmal gesehen, wie eine Windbö sie mit sich gerissen hatte; seit sie Zeugin von Mr. Kellys Unzulänglichkeit geworden war, hatte er kein Wort mehr mit ihr geredet. Und es bestand auch keine Gefahr, daß er jetzt etwas sagte.
Er radelte ein Stück weit, bis jemand eine weitere Anweisung brüllte. Mr. Kelly stützte sich mit einem Bein am Boden ab und drehte sich um, um zuzuhören. Äußerst interessiert beobachtete Lily, wie er, sich halb umdrehend, auf dem Sattel balancierte. Sie ließ ihn nicht aus den Augen, bis er außer Sichtweite war. Auch der letzte Rest von Farbe war nun aus ihrem Gesicht gewichen.
Als er weg war, gingen die Leute näher an die Leiche heran, aber bei ihren Gesprächen ging es eigentlich eher um ihre Verwunderung über die Explosion als um den Anblick von Buller Reynolds, der hier verblutet war. Während sie sich unterhielten, schlich Lily sich unbemerkt auf die andere Straßenseite. Aus den Wohnungen in dem Haus, in dem auch sie wohnte, tauchten weitere Neugierige auf. Denen mißtraute Lily am meisten, von denen mußte sie sich fernhalten. Mit einer Ausnahme hatten die Bewohner von Nummer acht für Nan Sweetman und ihre Gören nichts übrig. Sie hielten nicht viel von ihrem Lebenswandel und scheuten sich nicht, das laut zu sagen. Sie behaupteten, sie brächte Schande über diese verkommene Bruchbude von Haus. Als wäre das überhaupt noch möglich. Sie machten Lily ganz krank.
Dolly Brennan genoß ihre Starrolle und unterhielt die Leute. Lily lauschte auf das Eintreffen der Wachmänner.
Sie schaffte es, unbemerkt auf die andere Straßenseite zu gelangen, und schlich dann ein paar Meter weiter zu der Stelle, wo, halb unter einem kleinen Busch versteckt, eine schmale Tasche aus Leinwand lag. Mit einer geschmeidigen Bewegung bückte sie sich und breitete den Saum ihres Nachthemds darüber. Dabei drückte sie erneut das Bündel an ihr Gesicht und gab leise gurrende Laute von sich; ihre Blicke schossen hierhin und dorthin.
Mittlerweile war die Menge auf ungefähr zwölf Personen angewachsen; andere lehnten sich aus den Fenstern der fünf Häuser, die dem Schauplatz des Mordes am nächsten waren. Ihre Aufmerksamkeit wurde zwischen dem Feuerwerk am Himmel und der Leiche ihres Vermieters, der da auf dem Boden lag, hin und her gerissen.
»Was machst denn du da mitten in der Nacht, Lily Sweetman? Diese Mißgeburt von einem Kind sollte im Bett sein«, grölte Dolly Brennan. »Und wo treibt sich denn deine Mutter rum? Das würd ich gern wissen. Da liegt einer, der ihre Dienste brauchen könnte.« Sie lachte heiser und blickte Beifall heischend um sich, aber die anderen scharrten verlegen mit den Füßen und schauten weg.
Drunten im Slattery’s, und das weißt du ganz genau, murmelte Lily leise vor sich hin. Oder im Gerrity’s oder im Nash’s. Das Gebimmel einer Polizeischelle ersparte ihr, weiter gepiesackt zu werden. Langsam kam ein Morris-Kombi in Sicht. Ihm folgte in einigem Abstand Mr. Kelly, dessen Füße wie Kolben stampften, um mitzuhalten. Als der Wagen stehen blieb, drängte die Menge nach vorne; diese Gelegenheit nutzte Lily. In Sekundenschnelle hüllte sie die Leinentasche in ihre Decke und überquerte lässig, aber flink die Straße und ging ins Haus. Als sie drei oder vier Minuten später wieder auftauchte, trug sie ihren kleinen Bruder auf dem Arm, der glücklicherweise schlief. Kein Mensch hatte ihre Abwesenheit bemerkt.
Zwei Polizisten stiegen aus dem Auto. »Ich bin Sergeant O’Keefe«, erklärte der ältere und scheuchte die Gaffer von der Leiche weg. Der Wagen fuhr wieder los, und O’Keefe und sein junger Kollege forderten die Schaulustigen auf, in ihre Häuser zurückzugehen; sie waren ihnen nur im Weg. Die Leute achteten gar nicht darauf. Sie bildeten einen Halbkreis um die beiden Männer, während diese den Tatort untersuchten.
»Treten Sie gefälligst zurück!« schnauzte O’Keefe sie an. Aber keiner hörte auf ihn. Ein oder zwei besonders Tapfere wagten sich
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