Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fallera

Fallera

Titel: Fallera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
Vom Netzwerk:
zum Eingang meiner Mine. Da drin dürftest du ein einigermaßen geschütztes Plätzchen finden. Und morgen früh kannst du dich an den Abstieg machen. Ich zeig dir den Weg, sei unbesorgt.«
    Zuoberst auf das Gestell war ein Schlafsack geschnallt, und mit einem Aufwallen spürte ich, dass ich vorhin, im jaulenden Wind, blind vor Schnee, im Grunde schon mit dem Schlimmsten gerechnet hatte. Und jetzt das .
    »Danke«, sagte ich, und ich glaube, ich strahlte ein bisschen. Wuchtete mir das Ding auf den Buckel und schlug die Zeltbahn zurück. Draußen heulten die Elemente, aber nur für hundert Schritte. Ein Klacks.
    »Warte«, wiederholte sie sich, und ich ließ das schwere Tuch noch mal zurückfallen und sah sie fragend an.
    »Hast du schon zu Abend gegessen?«
    Ich dachte einen Moment nach.
    »Nein, aber ich habe Schokolade dabei«, antwortete ich dann und winkte zum Abschied. Mann, ich war müde.
    »Schokolade?«, fragte sie mit einer Stimme, die direkt aus dem Kellergewölbe ihres Zwerchfells zu kommen schien, und blickte mich mit schräg gelegtem Kopf prüfend an. Ihre Augen waren blass blaugrün und leuchtend, wie die Bruchstellen von Flusseis. An einem sonnigen Tag.
    Sie verengten sich ein bisschen, als ich zurücksah, aber sie hielten meinen Blick, wenn auch nur so gerade.
    »Was ist mit deinen Pupillen?«, fragte sie, trat näher und lüftete eines meiner Lider zur Inspektion. »Du bist traumatisiert«, stellte sie nach einem Weilchen kritischer Betrachtung nüchtern fest.
    Ich drehte den Kopf zur Seite. »Die Ausbildung zur Bergwerksingenieurin scheint mir recht umfassend zu sein«, bemerkte ich ausweichend.
    »Katastrophenschutz ist ein Teil davon«, bestätigte sie.
    »Aber die Wahrheit ist, dass ich ursprünglich Heilpraktikerin werden wollte. Und ein Blick in deine Augen sagt mir, dass du unter einem schweren Schock stehst, und ein Blick in dein Gesicht -«, sie griff nach mir und versuchte, mit dem Daumen eine der Falten um meinen Mund zu glätten, »lässt mich vermuten, dass das schon eine Weile so ist. Kannst du sagen, wie lange schon?«
    »Etwa dreizehn Monate«, antwortete ich und fragte mich, wieso.
    »Bist du in Behandlung?« Ich verneinte. »Und wieso nicht?«
    »Ich habe erst mal versucht, mich selbst zu kurieren.«
    Eine ihrer doppelt geschwungenen Brauen wanderte skeptisch in die Höhe. »Darf ich fragen, womit?«
    »Mit allem, was ich in die Finger kriegen konnte.«
    Ihre Haare flogen nur so, als sie vehement den Kopf schüttelte. »Das funktioniert nicht«, konstatierte sie. »Man muss es rauslassen. Betäuben bringt da gar nichts. Willst du darüber reden?«
    Der riesige Rucksack wurde mir allmählich schwer. Und Mann, ich war müde. Müde wie schon ewig nicht mehr.
    »Ich geb dir keine zwei Wochen«, sagte ich, »alleine hier oben.«
    Wieder wanderte die Braue. Trotzig diesmal. »Und wieso, bitte schön?«
    »Jemand, der bereit ist, sich freiwillig die Traumata völlig Fremder anzuhören, muss ein unstillbares Bedürfnis nach Konversation haben.«
    Das produzierte ein kurzes, bockiges Schweigen, bevor sich ihre Züge wieder glätteten. »Wenn ich ganz ehrlich bin, ging es mir gar nicht so sehr um deine Konversation«, gestand sie, halb verlegen, und ich dachte: Aha. Hierher also weht der Wind.
    »Sondern?«, fragte ich mit dieser tiefen, testosterongetränkten Stimme, von der sie bis heute noch alle weiche Knie gekriegt haben.
    »Sondern um deine Schokolade.«
    »Ich habe zwei Laster«, vertraute sie mir an.
    Wenn du damit mal auskommst, dachte ich.
    Sie stand an einer robusten Werkbank, die von einem Zweiplattenkocher gekrönt wurde, und rührte mit einem Holzlöffel in einem dampfenden Topf herum, während ich drauf und dran war, ein wesentlich männlicheres Werkzeug zur Anwendung zu bringen. Ich sage nur: Spiralfederförmig gewickelter Stahldraht mit quer stehendem Holzgriff.
    »Schokolade«, fuhr sie fort, träumerisch rührend, summend dabei, »und Rotwein. Auf beides für vier oder fünf Monate zu verzichten war undenkbar, aber auf eines wollte ich schon, allein um nicht so fett zu werden, in der Isolation, also musste ich mich entscheiden.«
    Und - pfopp! - wie sie sich entschieden hatte. Ihr in Alukisten mit Holzwollefüllung gestapelter Wintervorrat hätte ausgereicht, Napoleons Russland-Armee eine ganze Woche bei Laune zu halten.
    Ich füllte uns zwei Gläser, wir prosteten einander zu, schlürften ein Schlückchen, und ich weiß nicht, wie es kam, aber von da an übernahm ich das

Weitere Kostenlose Bücher