Fallkraut
schmatzt sie. Ihre Zunge ist gelb-orange von den Keksen.
»Den ganzen Tag reden ist nichts für mich.«
»Du tüftelst sicher lauter komplizierte Sachen aus«, sagt Valentine. »Noten einrichten oder so, das kannst du gut. Toll, dass du das für alle Streicher machst.« Ihre Zunge fährt in langen Zügen über die rosa Glasur.
»Es ist wirklich nicht schwierig«, sage ich schulterzuckend. »Man muss nur gut zählen und wissen, wo die Bögen hoch und runter müssen.«
»Ja, zählen«, sagt Valentine. »Das ist wichtig, das hat Brigit auch schon gemeint.«
»Eigentlich«, sage ich, »habe ich über Heifetz nachÂgedacht und wie simplifizierend ich ihn früher immer fand.«
»Heifetz? Der mit seiner Geige die unmöglichsten Dinge angestellt hat? Das war ein Genie.«
Valentine betont das letzte Wort, als ob ich ihr sonst nicht glauben würde.
»Ja der«, sage ich. »Heifetzâ Finger bewegten sich wie Spinnenbeine über die Geigensaiten, er konnte alles mit diesen Fingern. Und trotzdem sagte er selbst, dass sein Talent nicht mehr als ein zahlenmäÃiger Zufall sei.«
»Komischer Kauz«, bemerkt Valentine. »Wenn man so spielen kann.«
»Ja, das sage ich dir. Carnegie Hall, das Gewandhaus, die Berliner Philharmoniker, Tokio, an allen berühmten Orten wollten sie ihn.«
Es kribbelt mich in der Nase. »Guck mal kurz weg«, sage ich und fingere einen festsitzenden Popel heraus.
»Stört mich überhaupt nicht«, sagt Valentine, »was glaubst du, was ich bei Karel an Eiter gesehen habe.«
»Will ich gar nicht wissen«, winke ich ab.
»Dieser Heifetz«, fahre ich fort, »so dumm war es nicht, was er sagte. Wenn man länger darüber nachdenkt.«
»O nein«, sagt Valentine, »nicht dumm, nein, nein.«
»Romantisieren war ihm zuwider.« Ich stoÃe ein kurzes Lachen aus. »Und recht hat er.«
»Dabei ist das in der Musik doch so wichtig.« Valentine kaut wütend auf einem Keks. »Genau wie im Leben. Romantik ist die SoÃe über dem Knödel.«
»Was hat man davon?«, seufze ich. »Phantasien, Hirngespinste, Wunschgedanken, auf die Dauer glaubt man noch selbst daran.«
»Weià nicht«, erwidert Valentine. »Ich denke nicht, dass ich verstehe, was du sagst. Aber du wirst es schon wissen. Du hast eine Karriere. Ich dagegen, ich kenne mich aus mit Tortenfüllungen, damit, wie man Fenster putzt ohne Streifen und wie man Tomatenflecke aus einem weiÃen Rock herausbekommt. Nämlich gar nicht!« Valentines Lachen plätschert durch das Abteil. »Aber ich begreife nicht, was zufällige Zahlenkunde sein soll. Es ist doch nichts Zufälliges an drei Eiern, die von fünf übrig sind, weil man zwei aufgegessen hat?«
Ich ignoriere Valentines Geschwätz. »âºGeboren in Russlandâ¹, sagte Heifetz am Ende seines langen Lebens, âºerster Geigenunterricht mit drei, Debüt in Russland mit sieben, Debüt in den Vereinigten Staaten mit siebzehn. Das ist alles, was es zu sagen gibt. Wirklich.â¹Â«
»Langweilig.«
Ich zucke mit den Schultern. »Wenn man darüber nachdenkt, ist es so. Was gibt es über dich und mich sonst noch zu berichten, als dass wir zufällig 1907 und 1908 geboren sind und dass wir 1929 Karel und Sjors kennenlernten?«
Am Fenster gleiten Häuser und StraÃen und Fabriken vorbei, unendlich viele Ziegelsteine in einem hässlichen Land, das noch immer flach wie ein Pfannkuchen ist.
Ich denke an den Gipfel des Keilbergs in Böhmen zurück. All meine Freundinnen fuhren mit den Skiern hinunter, nur ich nicht. Ich hatte Höhenangst, die habe ich nach wie vor. Ich wagte nicht, mich abzustoÃen, während die anderen längst nach unten sausten. Auf dem Keilberg schlotterten mir die Knie, das Sauerkraut mit Wurst, das ich mittags hatte essen müssen, kam hoch.
Ich erinnere mich, wie mir der ganze Körper vor Kälte kribbelte. Meine Lippen sprangen auf, die Flüssigkeit in meinen Augen gefror. Sollte ich mir eine Höhle im Schnee graben oder lieber auf einen Baum klettern, um mich vor den Wölfen zu schützen? Warum hatten meine Freundinnen mich zurückgelassen und vergessen? Warum?
Dies ist, was es über mich zu sagen gibt: Geboren in Böhmen. Erster Geigenunterricht mit sieben. Debüt in Prag mit zehn. Debüt in Holland mit zweiundzwanzig. Das
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