Fallkraut
heiter, streng und lieblich zugleich. VogelfüÃe trippelten auf flachen Dächern. Hämmer schlugen Pfähle in den Boden. Ein Mischmasch von Stimmungen kam aus dem Himmel herunter, jeder Regentropfen besaà seinen eigenen Gemütsausdruck, seine eigene Redeweise, seinen eigenen Dialekt. Und ich, unten in der Gasse, wusste nicht mehr, welchem Tropfen ich glauben sollte, wann und warum.
Ich wusste erst wieder, wo ich war, als eine Stimme meinen Namen rief. Sjors. Ich blickte nicht mehr nach oben, ich blickte mich um. Ich fror, war abermals nass bis auf die Füllungen meines BHs, und auf einmal wollte ich nur noch eins: zurück nach Hause, zu Sjors. Ich wollte mir die rote Küchenschürze umbinden und in den Kühlschrank schauen, was es zu essen gab: Rhabarber aus dem Gemüsegarten, Fenchel oder Porree. Ich wollte es gemütlich machen bei uns. Eine nahrhafte Suppe zusammenbrauen mit vielen Fadennudeln und FleischklöÃchen. Und vielleicht würde Sjors heute Abend nicht mit dem Motorrad wegfahren, sondern zu Hause bleiben und meine Hand festhalten.
»Hast du ein Taschentuch für mich?«, frage ich Valentine.
Tines Knie keine dreiÃig Zentimeter von mir entfernt.
»Natürlich, Liebes«, sagt Valentine und greift nach der Tasche im Gang. Ihre Hände keine zehn Zentimeter vor meinem Gesicht. Valentine schrubbt ihre Hände mit Seife, Shampoo, Spülmittel, Kölnisch-Wasser-Tüchern. Kräftig rubbeln, damit die Finger, der Ballen und die Handfläche rosa und sauber sind und die Nägel bis weit unter das WeiÃe rein. Ich würde Tines Hände gern mit meiner neuen Minolta festhalten. Denn ihre rot entzündeten Nagelhäute erzählen eine Geschichte, die nicht von eitel Sonnenschein handelt.
Valentine kann die Taschentücher nicht finden. »Ich glaube, in meinem Koffer, oder nein â¦Â«
»Mach dir keine Umstände«, sage ich. »Ich nehme einfach den Vorhang.« Ich schnäuze mich in einen Zipfel des rotbraunen Lappens, der vor dem Zugfenster flattert, und wische mir danach die Nase an der Manschette meiner Bluse ab.
Valentine isst wieder, Kekse, von denen man die rosa, grüne, gelbe und orange Glasur ablecken kann. »Ich probiere alle Farben aus«, sagt sie. »Es scheint keinerlei Geschmacksunterschied zu geben.«
Ich nicke und lasse sie mit ihren Experimenten gewähren.
Alle groÃen Geister sind einsam, und das gilt insÂbesondere für Musiker. Smetana wurde verrückt vor Einsamkeit, vor allem nachdem er taub geworden war. Brahms war ein Träumer mit einem einsamen Herzen. Und Mozart mühte sich am allermeisten ab, nur ja nicht allein zu sein. Man braucht nicht jahrelang die Nase in PsychoÂlogiebücher gesteckt zu haben, um zu begreifen, dass das ganze Gefeiere und Herumgeschnacksel von Mozart auf die nagende Angst vor dem Alleinsein zurückzuführen ist.
Abends liege ich mit weit geöffneten Augen im Bett und lausche, ob Sjors schon mit seinem Motorrad in die StraÃe knattert. Ich höre die Schuppentür auf- und zugehen, das klebrige Geräusch der Küchentür, die an ihrem Dichtungsstreifen zieht, Sjors, der seine Slipper unter der Garderobe abwirft, seinen Helm abschnallt und in die Küche läuft. Der Kühlschrank geht auf, ein Topf klappert, ein Teller, Besteck wird aus der Schublade geholt. Was muss er jetzt wieder essen? Saure Gurken? Suppe? Käse? Was sucht er? Warum ist es nie genug? Warum isst er immer weiter? Wie Valentine. Ãbel wird mir davon. Aber noch übler wird mir bei dem Gedanken, dass Sjors eines Tages an unserem Tor vorbeifahren könnte. Dass er wirklich seine Sachen packt und nicht mehr nach Hause kommt.
Valentine sperrt den Mund auf und lässt ihr oberes Gebiss mit einem Knall auf die Unterzähne fallen.
»Oje«, sage ich, »witzig.«
»Sehe ich nicht entzückend aus?« Valentine dreht ihren Kopf zur Seite und schaut in das Fenster. Sie zieht ihre Oberlippe so weit wie möglich hoch.
»Zum Fressen. Und das tun die Würmer demnächst auch in deinem Grab«, sage ich. »Los, setz dein Gebiss wieder richtig ein. Du siehst ja aus, als ob du dem Phantom der Oper entsprungen bist. Was soll der Schaffner denken, wenn er reinkommt?«
»Der kommt nicht«, sagt Valentine. »Der erzählt sich bestimmt mit dem Lokführer unanständige Witze.« Sie nimmt noch einen rosa Keks. »Du bist still heute«,
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