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Fallkraut

Fallkraut

Titel: Fallkraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucette ter Borg
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uns in den Bergen gab es keine Schwimmbäder, und im Fluss unten im Tal schwammen nur tote Fische wegen des Zeugs, das die Fabriken ins Wasser einleiteten.
    Â»Hör auf deine Schwester.«
    Â»Machs wie deine Schwester.«
    Â»Benimm dich, genau wie deine Schwester.«
    Â»Sieh dir deine Schwester an. Die weiß wenigstens …«
    Â»Deine Schwester.«
    Meine Schwester, ja.
    Während einer Tournee durch Norddeutschland traten wir auch in Oldenzaal auf, in einem Saal, in dem es nach abgestandenem Bier und vollen Spucknäpfen roch. Zwei Wochen lang war das Tanzlokal von Dennenbarg Abend für Abend gerammelt voll. Wir spielten jeder ein Stück solo und danach ein Stück zusammen. Chopin, Schubert, manchmal ein bisschen Zigeunermusik und natürlich das Wiener Salonrepertoire. Wenn die Aufführung vorbei war, zeigten sich die Bauern hellauf begeistert. Die Männer pfiffen und johlten, bis Sigrid nickte und wir eine Zugabe spielten.
    An einem dieser Abende saß Karel an einem Tisch. Groß, schlank, mit dunklem Haar, die Beine übereinander geschlagen, eine Zigarette nonchalant zwischen den Fingern der Hand, die über die Stuhllehne herunterhing.
    Karel hatte etwas von Papa, auch wenn mir das erst auffiel, als Karel im Sarg lag.
    Papa war froh, dass er sich über mich kein Kopfzerbrechen mehr zu machen brauchte, und Karel erwähnte mit keinem Wort eine Aussteuer. Papa konnte seine Reichsmark in der Tasche behalten. Es geschah ihm ganz recht, dass die Dinger innerhalb von ein paar Jahren keinen Pfennig mehr wert waren.
    Ein Geschenk Gottes sei Sigrid, fand Karel. Schön in der Nähe, sagte er, als sie ein Jahr nach meiner Hochzeit Sjors aus Hengelo heiratete. »Da vereinsamst du nicht. Kannst du dich wenigstens bei jemand anderem als bei mir über Holland beklagen.«
    Aber ich schlug auf das Bett, und die Tränen, die mir über die Wangen liefen, machten meine Ohren, meine Haare und mein Kissen nass. »Immer bohrt sie ihre Nase in meine Angelegenheiten«, sagte ich.
    Karel band sich vor dem Spiegel den Schlips. »Hör auf mit diesem Unsinn.«
    Sigrid, die lächelt, wenn sie den Kopf hebt, die Thibout unter ihr Kinn legt und den Bogen ansetzt zum ersten Strich. Ich erkenne den Blick in ihren Augen. Es ist immer nur Sigrid Raffelsberger, die zählt. Und wenn ­Sigrid von uns spricht, wir beiden von Raffelsbergers, dann meint sie nur sich. Nicht mich auch noch dazu.
    Soll ich Annelore fragen, ob noch was vom Frühstück übrig ist? Oder ist noch Schokolade da? Vielleicht sind ein paar Leckkekse in der Tüte heil geblieben?
    Ich krieche aus dem Bett und gehe zu dem Tisch, wo die Verpflegung liegt. Ich schiebe Besteck, Zeitungen, Illustrierte und meine Tasche zur Seite und finde die Kekse. Die Schokolade, erinnere ich mich, habe ich in der Nacht schon aufgegessen. Ich hole zwei Kekse aus der Tüte und stecke sie mir in den Mund. Während der süße Teig und die rosa und gelbe Glasur auf meiner Zunge zerbröseln, krame ich weiter in den Sachen. Und dann fällt mir Sigrids Fotoapparat in die Hände.
    Ich hole die Minolta aus dem Futteral und schaue durch die Linse ins Zimmer. Ich mache nie Fotos. Sigrid ist die Fotografin von uns. Ich stecke mir noch zwei Kekse in den Mund, spanne den Auslöser und drücke auf ein Knöpfchen rechts. Ein metallisches Klicken ertönt. Ich kichere. Ich habe ein Foto gemacht, so ein kostbares Foto, von dem Sigrid mir immer die Ohren voll leiert, dass sie ganz sparsam damit sein müsse, dass sie nicht einfach wild drauflos schießen könne, sondern alles austüfteln müsse, Linse, Licht, Komposition, Verschlusszeit und solches Blabla.
    Ich stecke mir die letzten Kekse in den Mund und mache ein zweites Foto. Von meinen nackten Füßen in Pantoffeln auf dem Linoleum. Ich mache ein Foto von meinem Bett, von Sigrids Bett, von der Lampe an der Decke, dem Spruch an der Wand. Ich mache Fotos von meiner Nase, aus lächerlich kurzer Distanz, von meinem Hinterkopf, meinem Bauch, und ich erwäge sogar, ein Foto von meinem bloßen Hintern zu machen. Einfach die Hose runterziehen und mein Gesäß direkt in Sigrids Nase drücken.
    Dann ist meine Wut auf einmal vorbei. Ich reibe mir den Magen. Ich fühle mich leer, ein zugiger Einkaufskorb.
    Wohin, wohin soll ich?

9 Sigrid
    Â»Von Wain«, entziffere ich, »der Schmutzvernichter.«
    Vor der Tür des Ladens liegt ein

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