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Fallkraut

Fallkraut

Titel: Fallkraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucette ter Borg
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So wie es besser ist, mit einer vollen Schachtel Schokoladentäfelchen unglücklich zu sein als mit einer leeren.«
    Ich lächle. Ich sehe jetzt, warum Adriaan große Stücke auf von Wain hält. Ich trinke noch einen Schluck von meinem abgekühlten Kaffee. Wieder gleitet mir ein Schauer über den Rücken. »Ich habe eine Geige dabei«, sage ich.
    Â»Ah, richtig«, antwortet der Mann. »Eine Geige.«
    Die Art und Weise, wie von Wain seine Tasse wieder auf den Tisch stellt, seine Prothese beiseite schiebt, seine Hände auf den Tisch legt, alles schrecklich langsam auf einmal. Er bewegt sich wie eine Wasserpflanze in der trägen Strömung eines tropischen Aquariums.
    Â»Hat Adriaan wirklich gesagt, dass ich der Beste bin?«, von Wain atmet tief durch die Nase.
    Ich nicke. »Sonst wäre ich nicht hier«, sage ich. »Ich suche den zuverlässigen Rat eines Experten. Ich möchte diese Geige untersuchen und herausfinden lassen, wer sie gebaut hat und wann.« Ich nehme den Kasten, klicke die Verschlüsse auf und hole die Geige und den Bogen vorsichtig heraus. Das Instrument glänzt. Adriaan hat es gesäubert, die neuen Saiten draufgelassen und eine Kinnstütze dazugegeben. »Ich habe Geld dabei.« Ich bemühe mich, nonchalant zu klingen.
    Von Wain ignoriert mich, krempelt langsam die Ärmel seines Kittels hoch, kramt Filzhandschuhe aus der Küchenschublade, nimmt mir die Geige ab, dreht sie hin und her. Seine Augen sind Spalte. Er tastet, genau wie Adriaan vor ein paar Wochen, die Rundungen des Bodens und der Decke ab, seine Hände mal eine großzügige Schale, mal ein flaches Bügeleisen. Seine Finger verlängern sich, strecken sich, fühlen, klopfen. Von Wains Kopf versinkt zwischen Schulterblättern und Atlaswirbel. Mit Daumen und Zeigefinger lässt er die G-, die D-, die A- und E-Saite summen, seine Lippen spitzen sich.
    Wie anders ist es in Bad Bentheim gewesen, als Adriaan mich vollgequasselt hat. Jetzt habe ich das Gefühl, nicht zu existieren. Ich habe mich in dieser armseligen Küche aufgelöst, so wie sich der Zucker in meinem Türkischen Kaffee aufgelöst hat. »Ich kann Sie bezahlen«, sage ich nochmals.
    Von Wain murmelt kaum verständliche Worte, er umschmeichelt die Geige: »Was für eine makellos glatte Haut du hast, Liebchen.« Und leiser: »Schätzchen, Violinchen. Gib mir deine Geheimnisse preis. Wie alt du bist, woher du kommst, bei wem du all die Jahre gewesen bist. Sind sie gut zu dir gewesen, warst du glücklich und warum?«
    Ich höre, wie Einbein glucksende Laute von sich gibt, ein Geräusch irgendwo zwischen dem Gurren einer Taube und dem Krächzen einer Krähe.
    Â»Du kannst mir vertrauen«, sagt er und fängt an zu summen, eine Sonate für Klavier und Violine von Beethoven, verlockend und romantisch.
    Ich erinnere mich, was Adriaan gesagt hat: dass von Wain ein exzentrischer Vogel sei. Ich bin einiges gewohnt, die Musikwelt ist voll von Verrückten und Gestörten. Ich bin auf alles vorbereitet, aber nicht auf dieses Stück, das ich früher mit Valentine als Rausschmeißer gespielt habe.
    Ein Schmerz durchzuckt mich, vergleichbar mit dem, den ich voriges Jahr im Gesicht verspürte, als aus dem Durchlauferhitzer zu Hause eine Stichflamme herausschoss und mir die Wange verbrannte. Ich lege die Hand auf meine Wange und schlucke.
    Triest, Meran, Bozen, Dresden, Badenweiler, Heidelberg, Osnabrück. Wenn auch die Jahre vergehen, die Erinnerung bleibt.
    Als alles noch so voll von allem war, als alles noch möglich war. Ich lief über Weiden mit hoch gewachsenem Gras, und ich träumte von der Zukunft. Oh, dass sie nur bald kommen würde, diese Zukunft. Und dass sie sehr groß wäre. Hoch, höher.
    Weg, Sentimentalität, still. Es hilft nichts.
    Ich nehme den letzten Schluck Kaffee und würge hinter meiner Tasse.
    Von Wain schiebt seinen Stuhl zurück, wankt mit seinem Klumpfuß summend zum Küchenblock, kramt in der Schublade und holt eine Lupe hervor. Damit betrachtet er jeden Faserverlauf der Geige: die Ober- und Unterseite, die Intarsien, mit einer kleinen Taschenlampe leuchtet er in den Resonanzkörper.
    Â»Du bist eine mit dem Goldenen Schnitt. Jaha«, sagt von Wain vergnügt zu sich selbst. Als er mich anschaut, ist jeglicher Ausdruck wieder verschwunden. »Keine Brandmarke«, sagt er gleichgültig, »wie ich

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