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Fallkraut

Fallkraut

Titel: Fallkraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucette ter Borg
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nachdem ich mit dem Orchester geprobt, eingekauft und das Essen gekocht habe. Ich tue es mit Liebe. Denn das Ziel ist simpel. Ein Publikum, das weint, weil es mein Spiel so schön findet.
    Beim Abwasch denke ich an Menuhin. Menuhin interessierte sich für Beethoven, für die Fugen von Bach, für Bio-Kohl, Yoga, er entwickelte Maschinen, die menschlichen Kot zu Bausteinen verarbeiteten, er experimentierte mit Musik, die Literatur wurde, entwarf selbstrührende Bratpfannen.
    Maschinen entwerfen kann ich nicht. Aber backen und braten, flicken, im Garten arbeiten und noch eine Menge andere Dinge.
    Valentine sollte mal daran denken, bevor sie mir gemeine Dinge über den Haushalt, den ich verludern lasse, an den Kopf wirft. Valentine könnte ruhig mehr Gefühl zeigen.
    Endlich sind wir wieder in der »Alpenrose«. Ich nehme den Fahrstuhl, Valentine die Treppe. Ich fühle mich zu erschöpft, um etwas dazu zu sagen. Im Zimmer werfe ich meine Schuhe ab, gehe zum Bett und lasse mich vornüber darauf fallen. Eine Staubwolke steigt aus der Tagesdecke auf. Ich ziehe ein Kissen über meinen Kopf.
    Ich darf gar nicht daran denken zu spielen. Meine Geige aus dem Kasten zu holen. Den Bogen zu spannen. Die Kinnstütze festzuschrauben. Ein erster Ansatz. Ach was, ich verspreche mir überhaupt nichts mehr davon.
    Und doch ist es noch gar nicht so viele Jahre her, dass ich mit blauen Lippen und vor Kälte starren Fingern vor dem Theater in Enschede auf den Orchesterbus wartete. Es war Winter, und ich hatte meine Thibout auf dem Rücken, Mamas Pelzmantel zugeknöpft, Fäustlinge von Sjors an den Händen. Sogar im Bus, auf meinem festen Platz am Fenster, behielt ich alles an, denn der Fahrer teilte mit, dass die Heizung kaputt sei, und da es schneite, würde es wohl noch ein Weilchen dauern, bis wir am Ziel waren.
    Dieses Ziel war kein Theater mit Säulen, Freitreppen, Nymphen und Satyrn aus Marmor und Garderoben, in denen ich mich aufwärmen konnte, sondern so ein neues Kulturzentrum für die Siedlungen, die in den Poldern aus dem Boden gestampft wurden. Goor, Rijssen, Haaksbergen, Kampen, Steenwijk, Emmeloord, die Namen der Orte mit ihren unaussprechlichen Konsonanten klangen mir ebenso kalt in den Ohren wie der Wind, der über die gefrorenen Äcker fegte.
    Ich spielte ohne Abendessen. Dafür waren wir mit zu viel Verspätung angekommen. Und ja, die Zuhörer saßen schon auf ihren Stühlen, meine Finger waren steif, die Akustik war unter aller Kritik, und manchmal gab es ­einen Chor, der falsch wie eine Krähe sang. Wir spielten Stücke aus dem Messias von Händel und Tschaikowskis Serenade für Streichorchester . Als ich klein gewesen war, hatte ich von ganz anderen Sälen geträumt. Aber wie miserabel die Bedingungen auch waren, wie eisig die Räume, ich vergaß es, sobald ich meine Thibout unters Kinn setzte.
    Ich brauche keine Hände, um meine Geige festzuhalten. Meine Thibout steht von allein zur Seite ab, zwischen meinem Kiefer, meinem Hals und meiner Schulter, wie ein Stück wildes Fleisch. Dann forme ich mit meinem Bogen und den Fingerspitzen den ersten Ton, butterweich, schmerzlich mitunter, aber immer lupenrein. Ich zweifle, ich zweifelte nie.
    Nicht damals.
    Was machte es schon, dass wir hinterher, nach einer Tasse lauwarmem Moccona und einer Packung Kekse, wieder genauso viele Stunden nach Hause zurückfahren mussten, über die spiegelglatte Straße, ohne andere Autos, an denen der Buschauffeur sich orientieren konnte? Außerhalb der Ortschaften standen keine Laternen, und nur ab und zu waren die Lichter von Bauernhöfen zu sehen, in regelmäßigen Abständen in den Polder gebaut, aber auf dem höher gelegenen Land wurde es chaotisch. Caravan-Kees spielte mit Theo und Jan Karten. Der neue Pauker, ein Junge, der frisch vom Konservatorium kam, schlief sofort ein. Ich lehnte mich ans Fenster und starrte hinaus. Zu den Sternen am Himmel und den vereinzelten Straßenlaternen in der Ferne. Ich starrte in die Dunkelheit, bis ich nicht mehr sagen konnte, ob es nun Luft oder Land war, was ich sah. Erst als am Horizont die Fabrikschornsteine von Enschede auftauchten, wusste ich es wieder. Noch eine gute halbe Stunde, dann würde ich im Bett liegen. Und morgen würde ich wieder spielen.
    In dieser Nacht träume ich, dass Mama auf meiner Bettkante sitzt. Mama liest mir aus der »Schneekönigin« vor. Ihre Stimme klingt

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