Fallkraut
ich das Telefon und wähle die Nummer des Roomservice.
»Guten Tag«, sage ich zum anderen Ende der Leitung. »Ich würde gern etwas zum Essen auf unser Zimmer bestellen. Für mich und meine Schwester. Sie fühlt sich nicht wohl.«
Sigrid wirft mir vom Bett aus einen bösen Blick zu. Ich drehe mich um. Was man bei Sigrid sagt, ist falsch.
»Etwas, das nicht so schwer im Magen liegt. Die Tagesspezialität, Schweinebraten mit Kartoffelpüree und Sauerkraut? Nein, lieber nicht.« Ich höre mir an, was der Mann aufzählt, und sage dann: »Bringen Sie uns eine Schale mit Würstchen, WeiÃwürste, ja, mit süÃem Senf, und Salami. AuÃerdem eine kleine Aufschnittplatte. Ein bisschen mageres Kalbfleisch, Rindfleisch, geräuchertes Hühnerbrustfilet und Brot natürlich.« Ich warte, bis der Mann am anderen Ende meine Bestellung notiert hat. Dann sage ich: »Dazu möchte ich zwei Flaschen Schwarzbier und für meine Schwester eine Kanne dünnen Tee.«
»In welchem Zimmer wir wohnen?« Für einen Moment fühle ich Nervosität aufflackern. Was ist die Zimmernummer? »Sigrid!«, zische ich mit der Hand auf dem Hörer. »Welche Zimmernummer haben wir?«
»Zwei drei drei«, antwortet Sigrid. Sie blättert in meiner Burda. »Ich möchte übrigens keinen Tee, sondern Kaffee.«
Halt den Mund, gestikuliere ich und gebe die Zimmernummer durch.
»Mit deinem Kaffee warst du zu spät«, sage ich, als ich aufgelegt habe. »Trink du mal Tee. Ist viel gesünder in deinem Zustand.«
»Mmm«, knurrt Sigrid und kriecht unter ihre Decke. »Komm, setz dich wieder zu mir«, ertönt es.
»Nein, ich sitze gut so, und du bist krank. Du musst schlafen.« Ich nehme den Stapel Patiencekarten, schiebe den Kram auf dem Tisch beiseite und lege aus. Wie kommt sie darauf, dass diese Geschichten von früher nur schön sind?
Nach der Schule nahmen wir in Komotau den Bummelzug nach Hause. Der Zug kroch die Berge hinauf und hielt nach einer Stunde auf einer Lichtung im Wald. Dort befand sich ein Unterstand, wo der Förster einmal in der Woche Zugfahrkarten verkaufte. Ein umgefallener Baumstamm lag da, den jeder als Bank benutzte. Von dort aus liefen Sigrid und ich noch eine Stunde über einen trockenen Pfad, der durch das Moor führte. Dann waren wir wirklich zu Hause.
Manchmal war ich nicht vorwärts zu prügeln, aber an diesem Tag war es Sigrid, die trödelte. Sie pflückte in aller Ruhe Brombeeren, kam immer weiter vom Weg ab.
Papa und Mama hatten uns verboten, vom Weg abÂzugehen. Die Pfade im Moor veränderten täglich ihren Lauf. Wo man gestern noch festen Boden unter den ÂFüÃen hatte, konnte heute alles voller Treibsand sein. Und an diesem Tag war auch noch schlechtes Wetter im Anzug.
Ich stand auf dem kleinen Damm, und über meinem Kopf wechselten die Wolken ihre Farbe. Am Himmel erhob sich ein Amboss. Ich nahm den Geruch von faulen Eiern wahr und von Staub, der vom Regen aufgerührt wird. Die Hirsche, Hasen, Füchse und Vögel hatten sich in Sicherheit gebracht und verhielten sich still. Nur wir nicht. Sigrid und ich.
Ich rief: »Sigrid, guck dir doch mal den Himmel an! Wir müssen hier weg. Es gibt ein Gewitter. Wir müssen nach Hause.«
Irgendwo im Gebüsch hörte ich sie: »Lass mich in Ruhe. Geh nur schon vor! Hier hängen noch ein paar leckere.«
Und dann kam der Regen.
Regen auf mir, neben mir, in meinen Ohren, meiner Nase, meinen Augen, meinen Schuhen, im Ranzen auf meinem Rücken. Der Boden bewegte sich, Rinnsale krochen hervor, ein Nest sich kringelnder Würmer. Winzige Wässerchen verwandelten sich in Bäche, in tosende Flüsschen. Der Boden wurde weich. Der Sumpf geriet ins Treiben, und wir trieben mit. Und der Blitz krachte über unseren Köpfen.
Da kam Sigrid. Plärrend lief sie auf mich zu und klammerte sich an mich. Ihr Mund stand sperrangelweit offen, und ich konnte direkt in sie hineinsehen. Ich erinnere mich, wie blau ihre Zunge, Lippen und Zähne waren von den Brombeeren.
Ich war jünger als Sigrid, aber immer die gröÃere.
»Tine«, sagte Mama, »Tine passt auf ihre Schwester auf.«
Also nahm ich Sigrid mit. Durch das Moor und weiter über die Weiden die Hügel hinab. Denn wo der Wald aufhörte, begannen das Gras und die Felder, und dort standen keine Bäume, die den Blitz ableiteten. Wir
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