Fallkraut
Valentine aus dem Bett steigt. Ich höre Pantoffeln auf dem Teppich.
»Ich habe schon mit achtunddreiÃig keine Regel mehr bekommen«, antworte ich.
»O ja«, nickt Valentine, »im gleichen Alter wie ich.«
»Ich fühle mich nicht wohl«, sage ich leise. »Es fing heute Nacht an. Bauchschmerzen. Ziemlich starke Schmerzen.«
»Was sagst du?«, fragt Valentine. »Ich verstehe dich nicht.«
»Ich dachte, ich sterbe!« Ich schlieÃe die Augen.
»Sterbe? Wann denn?« Valentine läuft zu meinem Bett. »Was ist mit dir?«, sagt sie. »Vor Schmerzen? Warum hast du mich nicht gerufen?«
Ihre Stimme klingt verärgert.
Ich ziehe die Decke bis zur Nase hoch. »Es tat einfach viel zu sehr weh. Ich konnte kaum noch atmen.«
»Du musst mich rufen«, sagt Valentine und nimmt ein Kissen von der Bettcouch. Sie schüttelt es auf. »Du wirst doch nicht mutterseelenallein krepieren? Hier, das ist besser. Soll ich irgendwo drücken? Hast du eine Blinddarmentzündung? Womöglich musst du ins Krankenhaus, und wo ist hier ein Krankenhaus zu finden? Müssen wir dafür bis nach München?«
Ich schüttele den Kopf.
»Ich habe monatelang Karel gepflegt«, seufzt Valentine. »Als er aus dem Lager kam, war er oft nicht auf der Höhe. Und Otto war als Kind andauernd krank, zumindest bis er achtzehn war. Ich weià genau, was zu tun ist, wenn jemand krank ist.« Sie lacht schrill: »Jaha, ich habe so einiges durch.«
Ich will Valentines Arm ergreifen, aber genau in diesem Augenblick hält sie die Hände in die Höhe und dehnt sich. »Es geht schon«, sage ich und stecke meine Hand wieder unter die Bettdecke. »Ich weià nicht, was in letzter Zeit mit mir los ist. Manchmal ist es, als ob eine Membran vor meinen Augen hängen würde, dann muss ich reiben, um sie zu entfernen und klar zu sehen. Und mein Bauch ⦠Ich habe das Gefühl, dass alles irgendwie doppelt so viel Mühe kostet.«
»Das kenne ich«, murmelt Valentine. »Jeden Morgen muss ich Mut schöpfen, um â¦Â« Sie lässt die Arme sinken.
»Komm, setz dich einen Moment.« Ich klopfe auf die Bettkante. »Erzählst du mir eine Geschichte von früher?«
»Ich brauche nicht zu sitzen. Ich stehe prima so. Und eine Geschichte von früher? Die schüttle ich nicht einfach so aus dem Ãrmel.«
»Ach nein?«
»Ja, komisch, aber es ist so.« Valentine inspiziert ihre frisch lackierten Nägel. »Ich habe ziemlich viel von früher vergessen.«
Auf der StraÃe hört man das Rattern eines Karrens, Hufgeklapper, Glöckchengeklingel, ein Pferd, das schnaubt. »Das ist die Kutschfahrt, die gleich anfängt«, sage ich. »Am Lautersee entlang. Du kannst mit, wenn du willst.«
Valentine schüttelt den Kopf. »Wenn du nicht zum Arzt gehen kannst, müssen wir einen holen. Vielleicht sollte ich mich lieber anziehen und einen suchen?«
»Das ist nicht nötig.« Ich richte mich, auf den Ellenbogen gestützt, halb auf. »Ich muss mich nur gut ausruhen. Dann wird es schon wieder.«
»Genau wie ich gestern«, sagt Valentine langsam. Sie starrt mich an, ohne mich zu sehen. »Da war ich auch von der Rolle durch die Reiserei, die fremden Gesichter und immer neuen fremden Orte.« Sie zwinkert mit den Augen. »Aber jetzt fühle ich mich pudelwohl«, sagt sie munter. »Du musst nicht immer weitertraben wollen. Du bist nicht mehr so jung, wie du manchmal denkst.«
Valentine läuft zum Frisiertisch und greift nach einer Feile. »Das nächste Mal musst du mich auf jeden Fall rufen«, sagt sie. »Denn ich bin für dich da.«
»Ja, du bist da«, sage ich und lasse mich in meine Kissen zurückfallen. »Das ist wunderbar, Tine.«
Doch ich weià nicht genau, was meine Schwester damit meint.
14 Valentine
Was für eine heitere Vorstellung ist es, dass dem schwarzen Loch absolut nichts entkommt. Dass es solche Dinger gibt. Dass Gott sie erfunden hat, und dass der Mensch sich immer dahinter verstecken kann, wenn es ihm passt. Kein Staubbüschel, kein Licht, kein Härchen taucht Âdaraus wieder auf. Genau so ist es mit diesen Geschichten von früher, die Sigrid hören will. Aufgesaugt. Vom schwarzen Loch. Keine Lust, sie hervorzuholen. Jedenfalls nicht jetzt.
Ich mische meine Patiencekarten und lege sie zu einem ordentlichen Stapel. Dann nehme
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