Fallkraut
gebaut wurde. Dass ich blöd wäre, wenn ich diese Chance nicht nutzen würde. Diese letzte Chance, in meinem Alter noch zu zeigen, was ich auf dem Kasten habe. Mit so einer Granate, wie Puccini sie hatte, würde ich alle über den Haufen spielen.
Ich habe sein Geschwätz für bare Münze genommen.
Lorch, Mittenwald. Seine Tipps. Ein Staubsaugerverkäufer, ein Direktor in Lederhosen, ein vollgepisstes Geigenbauerhaus. Adriaan kennt mich gut genug, um zu wissen, dass ich mit ganzer Leidenschaft jeden Irrweg einschlagen würde.
Sjors?
Sjors, der beim Frühstück von dem Brand berichtete, den er in der Nacht zuvor gesehen hatte, wie es gerochen hatte, wo der Wind herkam und wie schnell das Feuer sich ausbreitete. Mit dem Rücken zu Sjors, mein Tuch fest um den Hals geschlungen gegen die Kälte im Haus, kochte ich Kaffee und schmierte Brote für die Probe.
Ich sagte »ja, ja« und »so, so«.
Ich sagte nichts über das Notizbuch, das ich im Schuppen in einem Fach mit Schraubenziehern gefunden hatte, in dem Sjors Dinge schrieb wie: »Fragt sie, liebst du mich?, sagt er, ich liebe dich. So einfach ist das. Zu lügen.«
Ich stand im Schlafzimmer und fragte: »Liebst du mich?« Er stand im Schlafzimmer und sagte: »Ich liebe dich.« Dann war das gesagt.
Aber ein paar Stunden später hatte sich die Erde um ihre Achse gedreht, und eine andere Frau fragte Sjors: »Liebst du mich?« Und er sagte: »Ich liebe dich, nur dich.«
Am Frühstückstisch sagte ich nichts über die Kälte, die mich plötzlich überwältigte und wie Weinen war.
Erst als Sjors sein letztes Stück Brot hinuntergeschluckt hatte und Anstalten machte, vom Tisch aufzustehen, gelang es mir, einen Satz aus meinem Mund zu pressen. »Wenn die Schokoladenstreusel alle sind, darfst du sie nicht in den Schrank zurückstellen. Dann kannst du sie wegwerfen, sonst weià ich doch nicht, dass ich neue kaufen muss.«
Wen soll ich um Rat fragen?
Valentine?
Valentine läuft weiter. Sie schreitet kräftig aus. Ich kann ihr kaum folgen.
Hinter dem barocken Turm der Pfarrkirche von Mittenwald sehe ich die Kalkformationen von Wetterstein und Karwendel. Auf einmal beklemmen diese Berge mich mit ihren Gipfeln, die sich blendend weià von dem strahlend blauen Himmel abheben. Als würden die Formationen, die mir die Sicht versperren, auch den Sauerstoff aus meinen Lungen ziehen.
Soll ich doch noch weiter? Nach Süden, über die Alpen, in die Po-Ebene? Cremona? Das einzige Italienisch, das ich kann, stammt aus der Oper. Wie soll ich mich ausdrücken, wen kenne ich da, ich traue mich nicht allein, und wie stelle ich es an, Valentine zum Mitkommen zu bewegen?
»Was läufst du so schnell?«, schnaufe ich. Ergreife ihren Ãrmel.
Valentine macht ein Geräusch zwischen Lachen und Hustenanfall. »Das streichen wir uns im Kalender an.«
Ich habe zu wenig geschlafen. Ich muss heute Abend mal früh ins Bett. Morgen sehe ich die Dinge wieder Âanders. Dann kann ich mich auf dem Bahnhof über Zugverbindungen in Stradivaris Geburtsort, über UmsteiÂgeÂzeiten und eventuelle Ãbernachtungen unterwegs informieren.
In meinem Ohr juckt es. Vielleicht habe ich Milben und zerkratze mir bald die Ohren wie ein alter Hund. Ich schiebe meinen kleinen Finger so tief wie möglich in den Gehörgang und schabe das Schmalz vom Trommelfell. Als ich den Finger herausziehe und unter meine Nase halte, riecht es übel und säuerlich.
Ich denke an die Worte, die Beethoven in seinem Testament schrieb: »O ihr Menschen, die ihr mich für feindselig, störrisch oder misanthropisch haltet oder erkläret, wie unrecht tut ihr mir, ihr wisst nicht die geheime Ursache von dem, was euch so scheinet.«
Diese Worte brennen hinter meinen Augen. Ich darf nicht anfangen zu weinen.
Wenn die Leute wüssten, wie müde ich bin.
Abends, wenn die anderen Orchestermitglieder fernsehen oder in ihre Hobbyclubs gehen und Sjors im Schuppen an seinem Motorrad herumbastelt, dann hole ich die ParÂtituren für die Probe am nächsten Tag hervor und knipse die Leselampe über dem Esstisch an. Mit schmerzenden Augen zeichne ich Auf- und Abstriche ein, notiere Fingersätze und schreibe Anweisungen über die Notenlinien: »Con espresso« oder »ein melancholisches Pianissimo, als ob man auf Eis läuft und weiÃ, dass es brechen wird.«
Das tue ich,
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