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Fallkraut

Fallkraut

Titel: Fallkraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucette ter Borg
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wateten, glitschten durch den Schlamm nach Hause. Unsere Taschen, Hefte und Stifte, unsere Schuhe, Röcke, Jäckchen und Spitzenblüschen, alles konnte sofort in den Schweinestall. Wenn wir es nur schafften, betete ich. Wenn Gott doch Erbarmen mit uns hätte und den Blitz nicht auf uns schickte.
    Gott war barmherzig. Er ließ den Blitz woanders einschlagen, in den Kirchturm von Preßnitz und in drei Bauernhöfe, die alle bis auf die Grundmauern niederbrannten.
    Aber mit Mama war es etwas anderes.
    Mama war dabei, Kartoffeln zu schälen, und an der Art und Weise, wie sie vor der Spüle stand, breitbeinig, die Schultern hochgezogen und den Kopf nach vorn, sah ich, dass Mama keine Gnade haben wollte.
    Mama schlug, ohne zu fragen, warum wir so spät waren, und schon bald lösten ihre Füße ihre Hände ab. »Wenn ich trete«, rief sie, »tun meine Hände wenigstens nicht weh.«
    Sigrid heulte, bevor Mama sie traf. Ihre Finger zeigten auf mich: »Sie war es. Es ist ihre Schuld, Tine wollte Brombeeren pflücken, Tine kann nicht genug bekommen.«
    Â»Nein, wirklich nicht«, sagte ich, »so war es nicht, Mama, bitte.« Doch Mama glaubte mir nicht.
    Tine mit ihren Fettrollen, dem beginnenden Doppelkinn und den speckigen Oberarmen. Tine, ständig mit den Fingern in der Keksdose. Tine, ihr Mund nie still, immer am Mahlen. Tine, was sagst du? Mit vollem Mund spricht man nicht, Kind. Ja, ja, Tine schwatzt viel. Aber von Geschwätz wird man nicht satt, Tine.
    Â»Ich schwöre es, Mama, es war anders, glaub mir.«
    Doch Mama glaubte mir nicht. Sigrid hatte die Worte gestohlen, die ich ein paar Stunden zuvor gebraucht hatte, als das Gewitter aufzog. Meine Worte: Sigrid wand einen Kranz daraus und hängte ihn sich um ihren Mund.
    Â»Ich habe alles versucht, Tine zum Mitkommen zu bewegen«, behauptete Sigrid. »Wirklich. Pfui, faule Tine, habe ich gesagt, wir werden ja sehen, wie Papa es findet, wenn er nach Hause kommt und hört, dass du …«
    Wie kommt Sigrid also darauf, dass ich andauernd Lust auf Geschichten von früher habe? Gut, dass sie krank ist. Dass sie auch einmal spürt, wie es ist, wenn man nicht mehr aus noch ein weiß vor Schmerzen. Gut, dass sie jetzt mal die Lästige ist und nicht ich. Gut, dass sie jetzt mal einen rostigen Leib hat, der nicht mehr will.
    Ich fische zwei Asse aus den Karten, die auf dem Tisch liegen. Ha, prima, die Herz Zwei passt gleich auf das rote Ass. Dann ist diese Reihe schon mal weg, und ich kann den Pik König oben hinlegen. Ich fühle mich seltsam vergnügt. Kein Stechen in den Füßen, kein Krampf in den Waden, und auch meine Schenkel verhalten sich schön ruhig. Meine Pumpe klopft munter. Ich kann mal wieder etwas unternehmen, heute. Nach dem Mittag­essen.
    Ich lege eine schwarze Sechs unter eine rote Sieben. Drehe ein Ass um. Schwups, weg damit.
    Ein kranker Mensch macht keine Scherereien. Zieht keine Aufmerksamkeit auf sich, liegt im Bett, still, oben.
    Karel, der gelb und fettig aussah.
    Sigrid in den Federn und ich am Steuerrad.
    Karel, dem jeden Morgen die Temperatur gemessen werden musste. Ich konzentrierte mich auf die Falten im Laken und atmete durch den Mund, um nur nicht den Dunst zu riechen, der aus seinem Hintern kam, wenn ich das Thermometer hineinsteckte.
    Sigrid, die bittet, dass ich mich auf den Rand ihres Bettes setze. »Liebe Tine«, während ihr Gesicht weiß ist vor Schmerz.
    Karel, der zähneklappernd vor Fieber sagt, dass es ihm leid tue. »Es tut mir so leid, Tine, dass ich … dass ich alles … alles im Eimer, alles kaputt.«
    Ich sehe auf einmal wieder haarscharf vor mir, wie es war auf Karels Bettkante. »Leid? Ach Karlchen, davon können wir uns auch nichts kaufen. Ist schon gut.«
    Durch die offen stehenden Fenster von Karels Schlafzimmer drangen Geräusche von gurrenden Holztauben herein, von Kindern, die auf der Straße Fangen spielten, einer Matte, die irgendwo in einem Garten geklopft wurde, und ganz aus der Ferne einem Traktor. Plötzlich fing Karel an zu singen.
    Normalerweise hatte Karel eine schöne Stimme, und er sang gern, was bemerkenswert ist für einen Mann. Jetzt waren seine Stimmbänder und Lippen brüchig durch das Fieber, und er sang eine Bach-Kantate, die er mit dem Kirchenchor einstudiert hatte, bevor sie ihn wegen seiner Paktiererei mit den Moffen rausgeschmissen hatten.
    Â»Herz und Seele freuet sich,

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