Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
beim Gasthof. Sie ritt hinter Cayal und der Crasii-Eskorte her, von der sie geglaubt hatte, sie wären ihr gegenüber vollkommen loyal. Sie war zu aufgewühlt, um an Flucht auch nur zu denken.
Sie bekam mit, dass sie in die Berge ritten, aber selbst als sie sich ein wenig beruhigt hatte, kam ihr der Gedanke an Flucht nicht in den Sinn. Sie war Zeugin von etwas Unmöglichem geworden. Solange sie keine befriedigende Erklärung für das unfassbare Verhalten ihrer Crasii hatte – und für das, was geschehen war, als Cayal sich mit einer Axt die Finger der linken Hand abschlug –, würde sie nicht davonlaufen.
Sie ritten durch den kalten, unbeständigen Regen; meist in Richtung Norden, auf engen Straßen, die Arkady nicht vertraut waren. Schließlich, kurz vor der Dämmerung, bogen sie auf einen Pfad ab, auf dem selbst die Crasii Schwierigkeiten hatten, zu folgen. Cayal schien jedoch genau zu wissen, wo er hinwollte, und befahl den Crasii, weiterzureiten, was sie anstandslos befolgten.
Arkady ritt durchfroren, durchnässt und wie betäubt hinter Cayal her. Sie grämte sich über die bereitwillige Unterwürfigkeit ihrer Crasii und dachte sich immer kompliziertere Verschwörungstheorien aus, um sich ihr Verhalten zu erklären – Konstruktionen, die von caelischen Agitatoren bis zu bestens organisierten ausländischen Spionageringen reichten – nicht, weil sie nicht glaubte, was sie gesehen hatte, sondern weil die Wahrheit zu schrecklich war, um sie auch nur in Erwägung zu ziehen. Sie überlegte, was ihr Kollege an der Universität von Lebec, Andre Fawk, denken würde, wenn sie ihm erzählen könnte, was sie gesehen hatte. Sie hatten so viele Stunden damit verbracht, die Crasii zu erforschen und ihre mündlich überlieferten Legenden zu dokumentieren. Wie oft hatte sie nachsichtig gelächelt über die unschuldige Einfachheit ihrer Mythen.
Nur dass sie gar nicht unschuldig waren, wie Arkady jetzt wusste, oder möglicherweise nicht einmal Mythen.
Sie wünschte, Andre wäre jetzt hier. Sie wünschte, irgendjemand wäre an ihrer Stelle jetzt hier …
Cayal brachte die kleine Kolonne zum Stehen, als die Wolken über den westlichen Berggipfeln eine purpurne Farbe annahmen. Die feuchte Luft war mit dem Hereinbrechen des Abends zusehends kälter geworden, und Arkady zitterte, als sie absaß. Sie sah sich um und entdeckte einen kleinen Wasserfall, der hinter ihnen an der Felswand herabfiel, wahrscheinlich geschmolzener Schnee aus den höheren Bergregionen.
»Wir bleiben die Nacht über hier«, wies er die Crasii an. »Errichtet ein Lager.«
»Habt Ihr keine Angst, dass man uns einholt?«
Er drehte sich zu Arkady um und zuckte mit den Schultern. »Ich kenne diese Berge ziemlich gut.«
»Dann seid Ihr schon einmal hier gewesen?«, fragte sie und klammerte sich an jede noch so kleine Hoffnung, dass dies alles sich doch noch als Intrige erwies; dass ihre Crasii klug ausgebildete, eingeschleuste Geheimagenten waren, die nur auf die Ankunft ihres caelischen Meisters gewartet hatten. Sie wusste, dass sie den Verstand verlor. Die Annahme, dass jemand ihre Crasii unterwandert und Spione eingeschleust hatte und dass sie ausgerechnet diese willkürlich ausgewählt hatte, sie an diesem Morgen zum Gefängnis zu begleiten, war mehr als unwahrscheinlich.
Das Problem war, wenn sie an diese Version der Geschehnisse nicht glaubte, war die einzige Alternative, dass Cayal tatsächlich ein Unsterblicher war, und das war nicht bloß unwahrscheinlich. Es war unmöglich.
»Ich lebe seit achttausend Jahren, Arkady. Ich bin schon überall gewesen.«
»Wie habt Ihr es geschafft, meine Crasii anzustiften?«, verlangte sie zu wissen und schauderte in der eiskalten Luft, während rings um sie ein Lager errichtet wurde.
»Ihnen wurde blinder Gehorsam gegenüber den Gezeitenfürsten angezüchtet«, sagte Cayal und wandte sich ab, um sein Reittier abzusatteln. »Sie können nichts dafür.«
»Warlock hat nicht gehorcht, als Ihr es befohlen habt.«
»Weil Euer Lieblingshund wahrscheinlich ein Ark ist. Eigentlich ein Jammer. Er ist ein gut aussehendes Tier. Hätte in den alten Tagen bestes Zuchtmaterial abgegeben.« Er hievte den Sattel vom Rücken seines Reittiers und ließ ihn auf den Boden fallen.
Arkady behielt ihn die ganze Zeit scharf im Auge und suchte nach einem Anzeichen dafür, dass seine verletzte Hand ihm Probleme machte.
Cayal bemerkte ihren Blick und lächelte. Er hielt seine Hand vor ihr Gesicht und wackelte mit den Fingern.
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