Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
viel höher war als der eines einfachen Angestellten, eigentlich im Palast wohnte.
Stellan war nur allzu gern bereit, zu glauben, dass das Mädchen nichts bemerkt hatte, als sie ihn und Jaxyn letzte Woche bei einer innigen Umarmung in der Bibliothek überraschte. Seiner Ansicht nach war ihre Unwissenheit in diesen Dingen ihrer provinziellen Erziehung zu verdanken. Vielleicht – hatte Jaxyn Stellan eingeredet – war in Kylias unschuldiger Welt ohne Graustufen, in der es nur Gut und Böse gab, gar kein Raum für eine andere Konstellation als die übliche: ein Mann und eine Frau, die sich verlieben und glücklich zusammenleben bis ans Ende ihrer Tage.
Zum Glück für alle Beteiligten war Stellan mit Jaxyns Erklärung zufrieden. Alles, was Jaxyn nun tun musste, war, die junge Kylia allein zu erwischen. Es gab da einiges, was er Lady Kylia gerne fragen wollte – zum Beispiel, warum genau sie so plötzlich in Lebec aufgetaucht war.
In der Halle stieß er auf eine Crasii, die junge Tassie, eine Canide von etwa siebzehn Jahren. Sie war loyal, diensteifrig und unter ihrem einfachen weißgoldenen Kittel von einem weichen weißen Fell bedeckt. Tassie war noch in der Ausbildung, darum arbeitete sie jetzt in der Morgenschicht und wurde noch nicht bei den Abendveranstaltungen in den öffentlicheren Teilen des Palastes eingesetzt. Aber sie war sehr lernwillig und freute sich immer über ein freundliches Wort und etwas Ermunterung. Wie immer, wenn er sich ihr näherte, duckte sie sich instinktiv von ihm weg, und ihre Rute fiel kraftlos herab, eine Reaktion, die ihn stets belustigte.
»Morgen, Tassie«, sagte er aufgeräumt, als sie vor ihm stehen blieb. Auf dem Tablett, das sie trug, klirrte das Teegeschirr. Sie zitterte.
»Mm … mein Herr.«
»Ich suche Lady Kylia.«
»S … sie ist im … im Morgensalon, Herr.«
Er lächelte. In einem anderen Geschöpf namenlose Angst auszulösen war ein köstliches, erhebendes Gefühl. »Stimmt etwas nicht, Tassie?«
»N-n … nein, Herr.«
»Hast du Angst vor Lady Kylia?«
»N-n … nein, Herr.«
»Du hast doch keine Angst vor mir, oder?«
Die junge Crasii zögerte, dann nickte sie zu seiner Überraschung. »Ein wenig schon, Herr.«
Er hob eine Augenbraue. »Nur ein wenig? Da scheine ich ja nachzulassen.«
»Ich atme nur, um Euch zu dienen«, versicherte sie ihm und neigte unterwürfig den Kopf.
Jaxyn lächelte. »So ist’s recht, das ist die Ordnung der Dinge. Im Morgensalon, sagst du?«
»Jawohl, Herr.«
Jaxyn sah sie schweigend an, bis die kleine Crasii merkte, er wartete darauf, dass sie beiseitetrat. Dann ging er durch die Halle in Richtung Morgensalon.
Tassie starrte ihm nach und auf ihrem Tablett klirrte leise das Teegeschirr.
Wie sich zeigte, hätte Jaxyn gar keine Auskunft gebraucht, um seine Beute aufzuspüren. Er hätte auch einfach dem Klang von Kylias Gelächter folgen können. Tilly Ponting war bei ihr, und die beiden kicherten wie die Backfische über etwas, das vor ihnen auf dem Tisch lag. Als Jaxyn den Morgensalon betrat, setzte er sein charmantestes Lächeln auf.
»Ich hoffe, ich störe die Damen nicht?«
»Jaxyn!«, rief Tilly aus. »Welche Freude! Natürlich stört Ihr nicht, keinesfalls! Kommt und gesellt Euch zu uns.«
Jaxyn durchquerte den elegant möblierten Raum und trat an den Tisch, vor dem Tilly und Kylia saßen. Durch die hohen Erkerfenster strömte helles Sonnenlicht herein, nach dem Sturm der letzten Nacht war der Morgen hell und klar. Die beiden hatten schon wieder die Tarotkarten ausgelegt. Kylia schien sehr angetan von der Vorstellung, dass ihr jemand die Zukunft voraussagen konnte.
Stellans Nichte lächelte ihn verschämt an, als er sich ihnen näherte. Ihr dunkles Haar und die grünen Augen hoben sich reizvoll gegen ihre karamellbraune Haut ab, sie war hübsch, wenn auch nicht von Arkadys atemberaubender Schönheit. Aber Kylia strahlte eine mühsam gebändigte Sinnesfreude aus, die für ein unschuldiges Mädchen ausgesprochen untypisch wirkte. Vielleicht lag es daran, dass sich unter der züchtigen Haltung und dem verschämten Lächeln ein Vollweib verbarg, das nur darauf wartete, von der Leine gelassen zu werden. All das und noch viel mehr verstand sie mit einem Seitenblick anzudeuten. Dergleichen lernte man nicht auf einem respektablen Damenkolleg. Ihr Glück war, dass die anderen Frauen ihre obskuren Reize nicht bemerkten und ihr Onkel ziemlich immun dagegen war. Andernfalls hätte die junge Lady Debrell vielleicht eine Menge
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