Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
Palast auf.
Im Alter von fünf Jahren zur Vollwaise geworden, war Kylia auf dem Gut ihrer verstorbenen Eltern bei Venetia herangewachsen und wurde – aus den Augen, aus dem Sinn – von allerlei Kindermädchen und Bediensteten erzogen, bis sie alt genug war, um auf jene exklusive Höhere-Tochter-Schule geschickt zu werden, der sie vor Kurzem entflohen war. Ihre Anwesenheit am Fürstenhof war für Jaxyn ein konstantes Ärgernis, ein Dorn in seinem Fleisch, dessen er sich nur zu gern entledigt hätte.
»Arkady liebt Euren Onkel mehr als ihr Leben«, versicherte Tilly Kylia. »Ihr stimmt mir da doch zu, Jaxyn?«
»Voll und ganz«, stimmte er lächelnd zu. »Habt Ihr meine Karte schon gezogen?«
»Eure Karte?«, fragte Kylia mit einem schrägen Blick.
»Jaxyn, der Fürst der Askese. Ich schätze, mein Vater fand es wohl seinerzeit amüsant, mich nach dem langweiligsten aller Gezeitenmagier zu benennen. Oder vielleicht war es Wunschdenken. Viel genützt hat es jedenfalls nicht«, er kicherte.
»Ich bin erstaunt, dass Ihr überhaupt wisst, was das Wort Askese bedeutet«, bemerkte Tilly.
»Enthaltsamkeit und Selbstbeherrschung«, zitierte Kylia und sah dabei Jaxyn an. »In Verhalten oder Äußerung, insbesondere die Mäßigung bei oder Abstinenz von geistigen Getränken.« Sie lächelte und wandte sich Tilly zu. »Die Definition mussten wir in der Schule auswendig lernen. Um solche Eigenschaften wurde da viel Aufhebens gemacht.«
»Ich nehme an, deswegen seid Ihr diesen spießigen alten Schachteln auch durchgebrannt und zu uns in den Palast gekommen, wo Ihr Euch endlich mal richtig amüsieren könnt.«
»Ich finde, Euch würde eine kleine Disziplinierung seitens einer spießigen alten Schachtel ganz gut tun, mein Junge«, warf Tilly stirnrunzelnd ein.
Er grinste die alte Dame an. »Nur wenn Ihr mir versprecht, dass Ihr mich erst fesselt, Lady Ponting, und mir sagt, dass ich ein sehr unartiger Junge bin.« Bevor sie antworten konnte, wandte er sich wieder an Kylia. »Wisst Ihr, was ich denke? Ihr und ich, wir sollten zusammen einen Abstecher auf den See hinaus machen. Nach dem Regen letzte Nacht ist er jetzt glatt wie eine Scheibe Rauchglas.«
Als Kylia klar wurde, dass sie Tilly nicht so einfach sitzen lassen konnte, ohne unhöflich zu wirken, machte sie ein langes Gesicht. »Leider geht das nicht, Lord Aranville. Tilly ist doch heute extra hergekommen, um mir persönlich die Karten zu legen. Ich kann sie jetzt nicht im Stich lassen, um einen Bootsausflug zu machen.«
»Ganz recht, das könnt Ihr nicht«, stimmte Tilly zu, aber sie klang nicht, als wäre sie eingeschnappt. Jaxyn fragte sich, ob Arkady die alte Dame als Tugendwächterin verpflichtet hatte, damit er nicht an Kylia herankam.
»Wenn du Tilly richtig nett bittest, hat sie vielleicht nichts dagegen«, ließ sich Arkadys Stimme von der Salontür her vernehmen. »Jetzt, wo ich da bin, um ihr ein wenig Gesellschaft zu leisten.«
Jaxyn sprang auf. Er wusste nicht genau, was ihn mehr verblüffte: dass Arkady dort stand und sich die Handschuhe von den Fingern streifte oder dass sie soeben seinen Ausflug mit der Nichte ihres Gemahls abgesegnet hatte.
Er wusste zwar, dass sie heute Morgen ausgefahren war, aber nicht wohin. Allem Anschein nach hatte sie gearbeitet, denn sie trug die Kleidung, die sie anlegte, wenn sie in der Universität zu tun hatte: glanzlos, hochgeschlossen, grau und unattraktiv. Jaxyn wusste, sie spielte ihre Erscheinung absichtlich herunter, als könnten schlichte Kleider sie als Wissenschaftlerin glaubwürdiger machen. Aber nichts, was Arkady Desean trug, konnte ihre Schönheit dämpfen. Deshalb hatte Stellan sie geheiratet, da war Jaxyn ganz sicher. Frauen zogen ihn zwar sexuell nicht an, aber er umgab sich nun mal gern mit schönen Dingen.
Schade, dass sie so eine frigide Zicke ist.
Kylia war sichtlich überrascht von Arkadys unerwarteter Rückendeckung. »Würde es Euch denn … wirklich nichts ausmachen, Tilly?«
»Nun – wenn Eure Tante nichts dagegen hat …« Offenbar hatte Arkadys untypisches Zugeständnis auch Tilly Ponting aus dem Konzept gebracht.
»Nun lauf schon, Kylia«, befahl Arkady und legte ihre Handschuhe auf dem Beistelltischchen ab. »Nimm dir aber einen Hut mit. Und einen Schal. Auf dem Wasser kann es um diese Jahreszeit noch recht kühl werden.«
Kylia stand auf, knickste artig vor Tilly, küsste Arkady hastig, aber dankbar auf die Wange und eilte dann aus dem Morgensalon, um Hut und Schal zu holen. Auch
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