Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 2 - Die Goetter von Amyrantha
Gezeiten dann wieder tief stehen und der Zauber auf einmal nicht mehr funktioniert, kann es ungemütlich werden.
Wie auch immer, alles begann ziemlich harmlos. Kentravyon und Lyna waren damals ein Paar. Sie ist ein nettes Mädchen, obwohl ich keine Ahnung habe, was sie an Kentravyon fand. Weißt du, sie ist eine Hure gewesen, damals, bevor sie unsterblich wurde. Arbeitete im selben Puff wie Syrolee. Ich habe mir immer gedacht, dass jemand mit ihrer Erfahrung ihn doch etwas langweilig finden müsste. Ein bisschen zu ungestüm und zu ernst, um ihre Zuwendung zu verdienen.
Es gab ein Gerücht, dass er sie vor einer Horde verrückter Sterblicher gerettet hat, die wild entschlossen waren, jede nur erdenkliche Methode an ihr auszuprobieren, wie sie uns loswerden konnten. Vielleicht war ja tatsächlich etwas dran. Ich habe sagen hören, dass Lyna einmal von den Heiligen Kriegern eingefangen wurde, und die benutzten sie, um ihre Theorien am lebenden Objekt zu überprüfen. Sicher weiß ich es nicht, aber ich finde, diese beiden waren immer ein seltsames Paar.
Sie ließen sich auf der Nordhalbkugel nieder. Jetzt ist der Kontinent in zwei Nationen aufgespalten, Caelum und Glaeba. Aber damals war es noch ein Land, das Corcora genannt wurde.
Kentravyons Herrschaft begann selbstverständlich als religiöser Kult. Religion ist die beste Art, die Bevölkerung eines Landes zu unterwerfen. Du kannst ein Land erobern, wenn du klug genug dazu bist, aber dafür brauchst du eine Armee und Geld, Ressourcen und jede Menge Energie, und selbst wenn du schließlich gewonnen hast, musst du weiterkämpfen, um es auch zu halten. Sich ein Imperium zu schaffen ist verdammt harte Arbeit, Religionen sind da viel effizienter. Wenn ein Mensch glaubt, dass du ein göttliches Überwesen bist, gehört dir nicht nur sein Körper. Dir gehört sein Herz und seine Seele, und das schlägt nackte Gewalt jederzeit um Längen.
Das Problem mit Kentravyons Religion war, dass er es damit etwas übertrieben hat. Ein paar tausend Jahre Unsterblichkeit, und der Idiot fangt an zu glauben, dass er nicht nur unsterblich, sondern auch unbesiegbar ist.
Glaub mir, das ist nicht dasselbe. Nicht annähernd. Das hat er nur leider nicht begriffen.
Jedenfalls, Kentravyon fing an, seiner eigenen Propaganda zu glauben. Begann sich für Gott zu halten. Und dann hat er sich diesen Wahn von der Reinheit der corcorischen Rasse ausgedacht. Er fing damit an, Ausländern zu verbieten, in Corcora Eigentum zu besitzen. Dann verbot er Mischehen zwischen Corcoranern und Ausländern. Dann ging er dazu über, alle Ausländer zu deportieren, und schließlich ließ er sie alle umbringen.
Ich weiß nicht genau, wie viele von uns anderen Unsterblichen wussten, was er vorhatte. Ich bin mir auch gar nicht sicher, ob sich viele von uns daran gestört hätten, selbst wenn wir es gewusst hätten. Zu dieser Zeit hatten die wenigsten von uns noch etwas von ihren menschlichen Anteilen übrig. Später sollten wir bitter bereuen, dass wir nicht besser aufgepasst hatten.
Abgesehen von den Massakern, die mit den Jahren immer schlimmer wurden, war Kentravyons größter Fehler das Wirken von Wundern. Einmal im Jahr, so sicher wie morgens die Sonne aufgeht, versammelten sich alle Gläubigen am Fuß des Berges, auf dem er seinen Tempel erbaut hatte, und er vollbrachte für seine Jünger ein Wunder. Es konnte ein Blitzschlag sein, der einen nichts ahnenden Fremdling zerschmetterte, oder ein Tornado, den er ausschickte, um irgendein abgelegenes Dorf zu zerstören, wo man töricht genug gewesen war, den Willen Gottes anzuzweifeln ... es war im Grunde ganz egal. Ich hab mich immer gefragt, ob bei diesem Wunder-Hokuspokus nicht Lyna ihre Finger im Spiel hatte. Sie hat nicht die Macht, solche Sachen selbst auszuführen, aber ich würde ihr durchaus zutrauen, dass sie es war, die Kentravyon damals die Ideen eingab. Das Ganze kam mir immer viel zu theatralisch vor, als dass er sich das allein hätte ausdenken können.
Jedenfalls, so ging das etwa drei- oder vierhundert Jahre lang. Die kosmische Flut war lang damals, das weiß ich noch, und als die Gezeiten schließlich umschlugen, hatte Kentravyons Religion sich über Corcoras Grenzen hinweg ausgebreitet.
Das ist nicht weiter verwunderlich. Menschen sind von Natur aus Stammeswesen und als solche an ihr jeweiliges Stammesgebiet gebunden. Angst ist das tiefste menschliche Grundgefühl, und Fremdenfeindlichkeit ist so lächerlich einfach zu erzeugen. Es ist gar
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