Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 2 - Die Goetter von Amyrantha
nicht schwer, Menschen einzureden, dass einer, der anders aussieht oder anders klingt, eine Bedrohung für alles darstellt, was ihnen lieb und teuer ist. Gib ihnen eine Religion, die es zu einer Tugend erklärt, jeden zu hassen, der anders aussieht, und du hast sie in der Hand.
Als wir erkannten, dass die Gezeiten wieder abnahmen, verehrte schon die halbe Welt den Gott Kentravyon, und die Massaker liefen endgültig aus dem Ruder.
Und dann hörten die Wunder auf.
Es war seine eigene Schuld, weißt du. Ich meine, er muss doch gespürt haben, dass die Gezeiten abnahmen. Er muss doch gewusst haben, dass seine Macht im Schwinden begriffen war. Oder vielleicht war ihm das auch wirklich nicht klar. Lyna erzählte uns später, dass sie versucht hatte, ihn von diesen Dummheiten abzubringen, aber wie ich schon sagte, hatte er damals schon jede Bodenhaftung verloren. Vielleicht hat Lyna ja nur versucht, sich im Nachhinein reinzuwaschen, aber ich neige doch dazu, ihr zu glauben, dass sie ihm davon abgeraten hat. Kentravyon wusste zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr, was er tat.
Jedenfalls, Kentravyons letzte paar Wunder fielen alles andere als spektakulär aus. Mit der zunehmenden Ebbe nahmen seine magischen Kräfte Jahr für Jahr weiter ab. Das merkte er auch. Und allmählich begannen die Eingeborenen unruhig zu werden, also beschloss er wohl, alles auf eine Karte zu setzen. Um das enttäuschte Genörgel nach einem recht kraftlosen Gewittersturm zu beschwichtigen, machte er auf seinen alljährlichen religiösen Festspielen eine große Ankündigung: Beim nächsten Mal würde er die ganze Welt erschüttern.
Dazu hatte er die Macht nicht mehr. Lyna sagt, sie hat ihn gewarnt, aber er ließ sich nicht mehr zur Vernunft bringen. Und da er es groß angekündigt hatte, wusste die ganze verdammte Welt Bescheid. Man sagt, im Jahr darauf seien fast eine halbe Million Pilger gekommen, um das Wunder mitzuerleben.
Natürlich kam es nicht dazu. Oh ja, er hat vielleicht ein paar Vulkane zum Rauchen gebracht, und unter der Erde rumpelte es einen Tag lang, aber mehr war nicht drin. Um viel mehr tun zu können, war die Flut schon zu weit zurückgegangen.
Die Reaktion der Gläubigen war am Anfang schwer einzuschätzen. Ich meine, Glauben heißt doch, auch ohne Beweis an etwas zu glauben. Und einer Menge Leute genügte das auch.
Aber die Saat des Zweifels war ausgesät. Die Gezeiten gingen zurück. Und Kentravyon verlor seine Fähigkeit, die Opposition in Schach zu halten.
Es ging im kleinen Maßstab los. Zuerst beachtete niemand die Widerständler. Ehrlich gesagt hat es mich überrascht, dass sie so lange brauchten, bis sie sich über einige der Dinge beschwerten, die Kentravyon sie im Namen ihres Gottes tun ließ. Aber seine Leute glaubten eben, er sei der eine wahre Gott. Er hatte sie sogar davon überzeugt, dass all die anderen Unsterblichen ihre Macht von ihm bezogen, dass seine Existenz für uns andere lebensnotwendig war; er hat sogar behauptet, dass er jeden anderen Unsterblichen töten kann. Das Problem bei dieser Logik ist nur, sobald du glaubst, dass Unsterbliche getötet werden können, sind sie nicht mehr unsterblich. Nur noch schwer zu töten.
Und genau das hatten sie vor. Kentravyons Opposition - und damals war die Widerstandsbewegung groß und gut organisiert - dachte sich, wenn Kentravyon die Unsterblichen töten kann, dann müssen wir das doch auch können. Und glaub mir, selbst wenn die Geschichte über Lyna nicht wahr ist, wurden in den nächsten Jahren alle nur erdenklichen Möglichkeiten, uns Unsterbliche zu töten, gründlich ausprobiert.
Sie jagten uns wie Tiere. Die Klugen gingen in den Untergrund, wie sie es immer tun. Es waren die Dummen wie ich, die am meisten litten. Diejenigen von uns, die weiter dort blieben, wo sie waren, und sich nicht die Mühe machten, ihre Unsterblichkeit zu verbergen. Ehrlich gesagt hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht groß darüber nachgedacht. Für mich interessierte sich doch sowieso keiner. Dachte ich.
Aber da lag ich falsch, und irgendwann fanden sie mich.
Es war nicht hier in Glaeba. Damals hatte ich ein anderes Grubenfeld weiter im Süden, heute nennt man die Gegend das Vereinigte Königreich von Elenovien. Die Ortsansässigen wussten, dass ich eine Unsterbliche war, aber hatten sich nie daran gestört und ließen mich im Allgemeinen in Ruhe.
Zumindest dachte ich, dass es sie nicht störte.
Nun, wie sich herausstellte, können sich selbst die nettesten Leute gegen
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