Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 3 - Der Palast der verlorenen Traeume
sie damit gemeint, dass er kein Gezeitenfürst sein musste? Hieß das, er konnte einer sein? Verfugte er über dieselbe Macht wie der unsterbliche Prinz?
Aber ihm blieb keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Als eben die ersten Strahlen der Morgensonne die Gipfel der Berge berührten, gellte ein Schrei durch die Luft. Er klang schrill, verstört und jung und kam aus dem Inneren des Bergarbeiterhäuschens. Declan rannte über den Hof und stieß an der Tür des Häuschens beinahe mit Stellan Desean zusammen, den Nyahs Schreie offenbar geweckt hatten. Gemeinsam stürzten sie ins Innere, das nur eine einzige Kerze auf dem Tisch erhellte. Nyah, noch in ihrem geliehenen Nachthemd, hockte halb über Shalimar, der vor dem Feuer lag.
»Was ist passiert?«, fragte Desean, einen Schritt vor Declan, und sah sich um, was bei Nyah solche Panik ausgelöst hatte.
Nyah sah auf, ihr Gesicht tränennass. Als sie Shalimar losließ, fiel seine Schulter zur Seite, sodass seine Augen zu sehen waren: offen, starr und leblos.
»Er ist tot«, sagte Declan leise und ausdruckslos.
Stellan Desean beugte sich hinunter und zog Nyah sanft vom Leichnam des alten Mannes weg. »Komm, Kleine, ist schon gut …«
Declan starrte auf Shalimars Leichnam hinunter, auf seine papierdünne Haut und sein Gesicht, das jetzt so friedlich wirkte. Empfand er nichts, weil er damit gerechnet hatte, oder weil er nun unsterblich und normaler menschlicher Gefühle nicht mehr fähig war?
Stellan hielt Nyah, die an seiner Brust schluchzte, und tätschelte ihr väterlich den Rücken. Er sah zu Declan auf. »Wir müssen Maralyce finden und es ihr sagen.«
»Sie weiß es«, erwiderte Declan mit absoluter Gewissheit.
Der ehemalige Fürst sah ihn einen Augenblick neugierig an und wandte sich dann Nyah zu. »Warum geht Ihr nicht ein wenig an die frische Luft, Hoheit?«, schlug er vor. »Spritzt Euch etwas Wasser ins Gesicht, Ihr werdet Euch gleich besser fühlen.«
»Aber … Shalimar … er ist …«
»Ich weiß. Macht Euch keine Sorgen. Declan und ich kümmern uns um ihn.«
Mit lautem Schniefen tat Nyah, wenn auch etwas zögerlich, wie geheißen und stelzte an Declan vorbei nach draußen.
»Ihr könnt sehr gut mit Kindern umgehen«, bemerkte Declan, als er die Tür hinter ihr schloss.
Der Fürst lächelte dünn. »Arkady hat immer gesagt, was für einen guten Vater ich abgeben würde.« Stellan ging in die Hocke, um den Leichnam zu untersuchen. »Eiskalt. Er muss schon seit Stunden tot sein. Es tut mir so leid, Declan.«
»Jetzt hat er keine Schmerzen mehr.«
Desean sah zu ihm auf. »Denkt Ihr, die Gezeiten haben ihn getötet?«
Declan nickte. Die Gezeiten … oder Maralyce, die ihm ein Kissen aufs Gesicht drückt, um ihn von seinen Qualen zu erlösen. Er war nicht sicher, wie er auf diesen Gedanken kam, aber es schien ihm plausibel. Für einen Unsterblichen war der Tod ein solches Geschenk, eine Gabe der Liebe, keine Strafe. Es würde ihn nicht überraschen, wenn sie Shalimars Ende beschleunigt hatte, weil sie seine Leiden nicht länger lindern konnte …
Gezeiten, fange ich jetzt schon an, mich in Unsterbliche einzufühlen?
»Declan?«
Er blinzelte und merkte, dass Stellan Desean mit ihm sprach.
»Oh, Entschuldigung … habt Ihr etwas gesagt?«
»Ich sagte, wollt Ihr ihn nach draußen bringen? Zur Schmiede vielleicht? Bis dieser Regen aufhört und wir ihn begraben können?«
Declan nickte und hob Shalimars Füße an, und gemeinsam mit dem ehemaligen Fürsten von Lebec machte er sich daran, seinen letzten sterblichen Verwandten nach draußen zu tragen.
4
Arkady erwachte mit einem Aufstöhnen, als Alkasa sie in den Rücken stieß, um ihr zu sagen, dass das Frühstück kam. Sie vergegenwärtigte sich sofort ihren Plan, und um als Sieche durchzugehen, bewegte sie sich langsam und mühselig. Sie hoffte, es war so überzeugend, dass es den anderen auffiel. Ausnahmsweise war die stickige Hitze in der Kajüte zu etwas gut, sie machte ihre klamme Haut fleckig und ungesund. Eigentlich wäre es konsequenter, auch das Essen zu verweigern, aber sie brauchte die Grütze, damit ihre Wunde vereitert aussah, also konnte sie es sich nicht leisten, sie zurückzuweisen.
Sobald sie ihre Portion in Empfang genommen hatte, zog sie sich zum hinteren Teil der Kajüte in die Nähe des Kübels zurück, sackte auf den Boden und sah sich um. So widerlich die Grütze auch war, sie war ihre einzige Nahrung, und alle Frauen waren eifrig mit Essen beschäftigt. Der Matrose,
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