Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
einen Wahnsinnigen aus der Gefangenschaft befreit haben, um mit vereinten Kräften das Leben des Unsterblichen Prinzen zu beenden. Und für uns andere verheißt das alles gar nichts Gutes, denn ich habe den starken Verdacht, dass für seinen Selbstmord ein Weltuntergang erforderlich ist.«
Bary Morel starrte sie entsetzt an. »Du redest ja völlig wirr, Arkady.«
»Leider nicht, das ist die reine Wahrheit«, erwiderte sie. »Und wenn du dich zur Abwechslung einmal nützlich machen möchtest, statt nur dazusitzen und mich um Vergebung anzuflehen, weil du so ein Rabenvater warst, dann könntest du mir helfen, einen Plan zu machen, wie wir hier rauskommen.«
Bary schüttelte den Kopf. »Hier kommt niemand mehr raus, Arkady.«
»Wenn man so denkt, natürlich nicht«, gab sie zurück.
»Sie werden uns hier drin bei lebendigem Leib verfaulen lassen«, sagte er. »Das ist absolut sicher.«
Arkady hatte auf schmerzhafte Weise gelernt, dass nichts im Leben absolut sicher war. »Das glaube ich nicht, Papa. Früher oder später kommen sie uns holen.«
»Sie?«
»Vielleicht sollte ich sagen, er kommt uns früher oder später holen. Deshalb bist du hier, musst du wissen. Er braucht dich als Druckmittel gegen mich.«
Ihr Vater schüttelte verwirrt den Kopf. »Von wem sprichst du?«
»Vom neuen Fürsten von Lebec, Papa«, sagte Arkady und warf einen Blick zum Eingang der eisigen Turmzellen, als könne er sich dort materialisieren, sobald sein Name fiel. Zum Glück blieb die Tür geschlossen wie immer, außer einmal am Tag, wenn man ihnen ihre Mahlzeiten brachte. »Stellans ehemaliger Liebhaber, der Mann, der für den Tod des Königs von Glaeba verantwortlich ist. Der unsterbliche, Gezeitenfürst Jaxyn Aranville.«
2
Die ganze Welt schien zu erzittern, wann immer sich ein neuer Eisbrocken von der Größe einer Kathedrale vom Schelf löste und in die eisigen schwarzen Gewässer des südlichen Ozeans stürzte. Jojo, die Crasii-Felide, taumelte und trat unwillkürlich einen Schritt zurück, obwohl sie ein gutes Stück abseits der Kante stand und – zumindest im Augenblick – nicht in unmittelbarer Gefahr war.
»Es wird schlimmer.«
Declan wandte sich von Jojo ab und sah die Gezeitenfürstin an, die das gesagt hatte. Ihre düstere Miene beunruhigte ihn. Arryl wirkte außerordentlich besorgt über das unzeitige Abschmelzen des Gletschers.
»Die Flut kommt so schnell«, sagte sie. Und damit meinte Arryl nicht das Meer, wie Declan nur zu gut wusste.
Sie waren am Nachmittag hierhergekommen, zum äußersten Zipfel von Jelidien, um sich ein Bild davon zu machen, wie schnell der Eiskontinent verschwand. Declan hatte den Ausflug angeregt, erfüllt von einer schrägen Mischung aus Beklommenheit und schuldbewusstem Entzücken über den rapiden Anstieg der kosmischen Flut. Als sie die Küste erreichten, fand er seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Die rasant steigenden Gezeiten berührten nicht bloß die Unsterblichen und erst recht nicht nur einen frisch gebackenen Unsterblichen, der zum ersten Mal die wahre Auswirkung der kosmischen Flut erlebte. Ganz Amyrantha bekam ihre Macht zu spüren.
Declan hatte immer noch Mühe, die Wendung der Dinge zu begreifen, die ihn an diese Eisklippe geführt und einen Haufen legendärer Unsterblicher zu seinen Gefährten gemacht hatte. Es war noch gar nicht lange her, da war er ein Niemand gewesen. Nur seiner hart erarbeiteten Rolle als Erster Spion des Königs hatte er ein gewisses Ansehen verdankt. Und wäre ihm nicht ein schicksalsträchtiger Unfall widerfahren – ein Brand im Kerker von Lebec, in den er nicht hätte geraten dürfen –, so hätte Declan wohl sein Leben gelebt und wäre gestorben, ohne je von seinem unsterblichen Erbe zu erfahren. Doch als ihn das Feuer verzehrte, musste er feststellen, dass er nicht einfach bloß Declan Hawkes war, das Kind aus den Elendsvierteln, das es in eine höhere Laufbahn geschafft hatte. Er war Sohn und Urenkel von zwei mächtigen Unsterblichen, deren Stammbaum stärker war als die Flammen, stärker als alles andere. Er war nicht länger der uneheliche Bankert einer glaebischen Hure, er war ein Gezeitenfürst.
»Sollten wir nicht besser ein wenig Abstand halten, Herr?«
Declan unterbrach sein Gegrübel über die Tücken des Schicksals und warf über die Schulter einen Blick auf die ängstliche Crasii, die hinter ihnen wartete. Hier draußen auf dem Eis mit den Gezeitenfürsten – die völlig immun waren gegen jede Unbill des Wetters
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