Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
wäre, und meine Tochter von diesem schrecklichen Arrangement entbinden, bevor jemand zu Schaden kommt.«
Wie sehr Bary sich damit täuschte, merkte er einige Tage später, als man ihn holen kam. Nicht um ihn in die Freiheit zu entlassen, sondern um ihn in eine Zelle im tiefsten Keller des Kerkers von Lebec zu werfen, wo er, wie Stellan Desean ihm angedroht hatte, das Tageslicht nie wiedersehen würde.
TEIL I
FLUT
Lang in dieses Dunkel starrend,
stand ich fürchtend, stand ich harrend,
voll der Zweifel wagt* ich Träume,
wie kein Sterblicher zuvor.
»Der Rabe« – Edgar Allan Poe (1809-1849)
1
Dass ihr Vater noch am Leben war, ging über Arkadys Fassungsvermögen. Und noch unfassbarer war der Umstand, dass Stellan es die ganze Zeit über gewusst hatte; dass er sie so himmelschreiend und schamlos hintergangen hatte.
Zuerst wollte sie es schlicht nicht glauben. Nachdem man sie in die eisige Turmzelle des Kerkers von Lebec geworfen hatte, dauerte es Stunden, bis sie sich zu den Gitterstangen vorwagte, die ihre Zelle von der ihres Vaters trennte, um dieser völlig unmöglichen Wahrheit ins Auge zu sehen. Und als sie sich endlich dazu überwinden konnte, erkannte sie, dass sie weder glücklich noch erleichtert war, ihren Vater wiederzusehen. Sie war vielmehr wütend. So wütend wie noch nie in ihrem Leben.
Wie konnte ihr Vater es wagen, ihr das anzutun? Wie konnte er es wagen, sie all die Jahre in dem Glauben zu lassen, dass er tot war? Arkady hatte um ihren Vater getrauert, hatte ganze Tränenflüsse um ihn vergossen. Und die ganze Zeit über war er hier gewesen, direkt vor ihrer Nase, im Kerker von Lebec. Und diesen Arrest hatte er nicht etwa seinem Gesetzesbruch zu verdanken, sondern ausschließlich seinem fehlgeleiteten Ehrbegriff.
Er hätte bloß den Mund zu halten brauchen. Seine Begnadigung war längst unterzeichnet und besiegelt und hätte nur noch ausgehändigt werden müssen. Um sein Leben zu retten, musste Bary Morel nichts weiter tun als stillhalten und seiner Tochter erlauben, einen Mann zu heiraten, der ihr Wohlstand, Ansehen, einen Titel und überhaupt alles versprach, was sie sich je wünschen konnte. Dass ihr Gemahl nun mittlerweile in Ungnade gefallen war und sein politischer Untergang sie mitgerissen und in diese Kerkerzelle verschlagen hatte, tat hierbei nichts zur Sache. Was Arkady unendlich erboste, war die schiere Blödheit in der ganzen Affäre. Das edelmütige und völlig sinnlose Opfer, das ihr Vater für sie gebracht hatte. Und die wirklich schockierende Skrupellosigkeit ihres Gemahls, der bei diesem Betrug mehr als nur ein williger Komplize gewesen war.
Und dann war da noch Declan Hawkes. Hatte am Ende auch er davon gewusst und sie belogen? Konnte der Fürst von Lebec einen Häftling ohne Gerichtsverhandlung über sieben Jahre lang wegsperren, ohne dass der Erste Spion des Königs davon Wind bekam?
Arkady konnte nicht glauben, dass Declan bei so etwas mitgespielt hätte. Aber andererseits hätte sie auch Stellan nie für dermaßen herzlos gehalten. Oder ihren Vater für dermaßen halsstarrig.
»Willst du jetzt bis in alle Ewigkeit wütend auf mich sein?«
Arkady sah auf. Sie kauerte zitternd vor Kälte auf ihrer Pritsche, die Knie bis unters Kinn hochgezogen. »Ja.«
»Du musst verstehen, Arkady …«
»Was soll ich verstehen?«, fauchte sie. »Dass du mich lieber in dem Glauben gelassen hast, du seiest tot? Oder vielleicht, dass deine ach so noble Weigerung, zusätzlich zu der fürstlichen Begnadigung den Rest deines Lebens in Freiheit und gut versorgt zu verbringen, zu meinem Besten gedacht war?«
Ihr Vater stand am Gitter und hielt sich an den Stangen fest, als könnte sie das einander irgendwie näherbringen.
Alt sah er aus, so wie früher nie. Sein stoppeliges Haar war grau geworden, seine Haut wachsbleich und faltig.
»Es war zu deinem Besten, mein Liebes. Kannst du das nicht verstehen? Ich konnte doch nicht zulassen, dass meine eigene Tochter sich verkauft, nur um mich zu …« Seine Stimme zitterte unsicher.
»Um dich schon wieder zu retten?«, ergänzte sie den Satz für ihn. »War es das, was du sagen wolltest?«
Er seufzte. Inzwischen wusste Arkady, dass ihr Vater schon kurz nach seiner Verhaftung von ihrem Handel mit Fillion Rybank erfahren hatte. Was er allerdings ihr gegenüber mit keiner Silbe erwähnt hatte. Kein einziges Wort all die Male, die sie ihn im Kerker besucht hatte. Kein einfühlsames Kommst du damit klar? Keinerlei Anerkennung
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