Falsch
Stunde da«, sagte er schließlich und trennte rasch das Gespräch. Dann stand er auf und spürte, wie seine Knie nachzugeben drohten. Er schlug voller Zorn mit der Faust auf den Tisch, bevor er die oberste Lade aufzog und einen großen Schlüssel herausnahm. Anschließend schlurfte er mit hängenden Schultern zu dem alten, reich verzierten Safe, der wie ein Relikt aus früheren Tagen in einer Ecke des kleinen Raums kauerte. Das Bild seines Vaters hing direkt darüber, und Georg schaute ihm in die Augen.
»Du hast genau gewusst, dass es eines Tages geschehen würde. Es war nur die Frage, wann, nicht wahr? Der Teufel soll dich holen, alter Mann, und den verdammten Vogel gleich dazu!« Seine Hand mit dem großen Schlüssel zitterte, als er den Safe aufschloss, das geriffelte Rad drehte und die Kombination einstellte. Dann zog er am Handgriff, und die schwere Tür schwang mit einem hellen Quietschen auf. »Du hast gelogen, Vater. Hast du nicht immer wiederholt, dass es wahrscheinlich nie so weit kommen würde? Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, hast du gesagt, der Brief ist nur für den Fall der Fälle. Eins zu einer Million, dass du ihn jemals in deinem Leben öffnen musst.« Georg murmelte vor sich hin, während er Akten und Ordner aus dem Safe räumte. »Mein Leben! Ha! Was wusstest du schon von meinem Leben? Dein ganzes Leben war eine Lüge, ein transatlantisches Fiasko. Ich hätte gute Lust, dem Vogel den Hals umzudrehen, den Ring in der Toilette runterzuspülen und deinen Brief zu verbrennen.«
Als er endlich das braune Kuvert an der Rückwand des Safes erreicht hatte, türmten sich Stapel von Akten um ihn herum auf dem Boden. Er setzte sich zwischen die Türme aus Papier auf das abgetretene Linoleum und drehte behutsam den Brief in seinen Händen. So lange er sich erinnern konnte, hatte er im untersten Fach dieses Safes gelegen. Einmal, Georg war noch ganz klein gewesen, kaum älter als fünf oder sechs, hatte der Panzerschrank im alten Büro seines Vaters offen gestanden. Damals war ihm der Safe riesig erschienen, eine Eiger-Nordwand aus Stahl, und er hatte neugierig in die Fächer geschaut. Ganz unten hatten, neben dünnen Bündeln von Pesos und Dollar, der Schmuck seiner Mutter, ein paar Orden und Medaillen, eine alte Pistole und ein Stapel Briefe gelegen. Und dann der Brief, mit der charakteristischen, gestochen scharfen Handschrift seines Vaters, die Georg damals noch nicht lesen konnte.
Jetzt tanzten die Buchstaben vor seinen Augen. Die Tinte war in den langen Jahren verblasst, aber Georg kannte die Anschrift inzwischen auswendig: »An meinen Sohn Georg Gruber, persönlich und verbindlich, irgendwo auf dieser Erde.«
»Der Schlag soll dich treffen, alter Mann«, murmelte Georg. Dann fiel ihm ein, dass genau das bereits eingetreten war, und er kam sich schlecht vor. Der Brief trug auf der Rückseite fünf Siegel, in deren blutroten Lack die Initialen FG seines Vaters gedrückt waren. Kunstvoll verschnörkelte Buchstaben, umringt von seinem Wahlspruch Ad Astra – zu den Sternen.
»Nach ihnen hast du gegriffen, aber du hast sie nie erreicht, Vater«, flüsterte Georg und begann, ein Siegel nach dem anderen zu erbrechen.
Flughafen Franz Josef Strauß,
München/Deutschland
Christopher Webers Schicht war früher zu Ende gegangen als geplant. Nachdem drei Flüge nach Griechenland ausgefallen waren, weil dort die Fluglotsen streikten, hatte man Chris nach Hause geschickt, um dem Flughafen Personalstunden und damit Kosten zu ersparen. So schälte er sich drei Stunden eher als geplant aus dem verschwitzten Overall mit dem blauen M, zog seine geliebten Jeans und einen ausgeleierten Pullover an, der ihn bereits seit einigen Jahren begleitete und dem man langsam die Kilometer ansah, genauso wie dem orangenen Bulli in der Tiefgarage.
Der Himmel über München war dunkel geworden, und der aufgeheizte Beton des Flughafens strahlte nach und nach die Hitze des Tages ab. Von den Alpen her wehte ein kühler Wind herüber. Er trug den Geruch von gemähten Bergwiesen, den Duft des Südens und das Flüstern italienischer Versprechungen mit sich nordwärts.
Christopher stand noch einige Minuten am Rand des Flugfelds, die Hände tief in den Taschen vergraben, den Kopf in den Nacken gelegt, die Nase im Wind. Im Westen war noch ein Hauch von Blau zu sehen, der sich langsam hinter den Horizont zurückzog.
Es gab Tage, an denen vermisste er seine Eltern mehr als alles andere auf der Welt.
Zwischen seinen Fingern
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