Falsch
verwandelt wirkende Francesca mit einer verblüffenden Feststellung. »Andererseits hilft es beim Rechnen.«
»Was hilft?«, erkundigte sich Bernadette stirnrunzelnd. »Der Zug?«
Das Mädchen schüttelte energisch den Kopf. »Nein, die Formen. Frag mich etwas. Hast du einen Taschenrechner?«
»Ja, Moment, hier in meiner Tasche muss einer sein«, gab Bernadette überrascht zurück und kramte kurz darin. Dann zog sie ihn hervor. »Und jetzt?«
»Denk dir eine Multiplikation aus oder, noch besser, eine Wurzel.«
»Du meinst so etwas wie sechs mal acht oder die Wurzel aus vier?«, erkundigte sich Bernadette, und Francesca lachte laut auf. Nun klang sie wieder wie ein unbeschwerter Teenager.
»Ja, aber schwieriger, sagen wir vierstellig«, forderte sie und schloss die Augen. »Los!«
Bernadette überlegte. »Gut«, entschied sie, »wie viel ist die Wurzel von 7582?«
»Bis zu welcher Stelle hinter dem Komma?«, gab Francesca gut gelaunt zurück.
»Öhh, warte.« Bernadette tippte. Dann hatte der Rechner das Resultat dargestellt, und sie zählte die Ziffern. »Bis zur vierzehnten nach dem Komma, mehr schafft der Rechner nicht.«
»Leicht«, freute sich Francesca. »Die Wurzel aus 7582 ist 87,07468059085833.«
Bernadette war verblüfft und sprachlos.
»Multiplikation!«
»Warte, sagen wir 2964 mal 341?«
»1010724«, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen. »Viel zu leicht.«
»Schon gut, ich glaube es dir«, wehrte Bernadette ab. »Wie machst du das?«
»Ich werde versuchen, es dir zu beschreiben«, lächelte Francesca. »Die erste Zahl sehe ich als eine Figur, die zweite als eine andere Form. Im Zwischenraum zwischen den beiden entsteht eine dritte mit der Lösung. Ich brauche nicht rechnen, ich lese nur ab.«
»Du meinst, jede Zahl hat bei dir eine andere Farbe oder Form?«, erkundigte sich Bernadette ungläubig.
»Nicht oder – und! Jede Zahl hat eine andere Farbe, eine andere Form oder löst eine Emotion aus. Es gibt gute und schlechte Zahlen, böse und hinterhältige, glückliche oder traurige.« Francesca schaute in die Ferne und nickte dabei bestätigend. »Ja, die Zahl Pi zum Beispiel ist ein perfektes Gemälde, eine fehlerlose Landschaft, die ideale Zahl. Ein Savant hat vor kurzem die Zahl bis zu fünfundzwanzigtausend Stellen hinter dem Komma auswendig aufgesagt, fünf Stunden lang. Das Sprechen hat ihn dabei am meisten angestrengt.« Das Mädchen gluckste fröhlich. »Wissenschaftler, die ihn untersuchten, haben ihn an eine Maschine angeschlossen, die Emotionen durch Ausschläge wie ein Seismograph messen und darstellen kann. Dann haben sie etwas ganz Fieses gemacht, nämlich einzelne falsche Ziffern in die Zahlenreihe von Pi geschummelt und die Zahlenkolonne von rechts nach links über den Bildschirm laufen lassen.« Francesca schüttelte den Kopf. »Ganz böse. Die Ausschläge waren bei den falschen Ziffern so stark, dass die Kurven der Skala nicht mehr aufgezeichnet werden konnten. Er litt jedes Mal wie ein Hund …«
»Unglaublich«, murmelte Bernadette, die ihren Rechner wieder in der Tasche verstaute.
»Ja, Daniel Tammet ist einer der bekanntesten jungen Savants unserer Zeit. Er schreibt sehr erfolgreich Bücher und hat gelernt, was ich noch trainieren muss«, gestand Francesca ihrer Lehrerin.
»Was könnte ich dir noch beibringen?«, stellte Bernadette ironisch fest. »Rechnen sicher nicht.«
»Nein, das nicht«, lachte Francesca, »aber die vielen Regeln und ungeschriebenen Gesetze des Umgangs mit anderen Menschen. Ich möchte irgendwann ein selbständiges und weitgehend normales Leben führen, heiraten, eine Familie gründen, Kinder haben. Und meine Ängste vor alldem verlieren. Dinge, die dir nicht schwerfallen, für mich aber schier unüberwindbare Barrieren sind.«
»Lass dir lieber keinen Rat zum Thema Männer von mir geben«, erwiderte Bernadette lächelnd. »Aber an allem anderen werden wir arbeiten. Du hast noch jede Menge Zeit, und ich bin sicher, du lernst schnell.«
Die Schulglocke kündete das Ende der Mittagspause an. »Und jetzt ab in die Klasse! Die Glocke läutet auch für Genies!«
»Jawohl, Frau Lehrerin!« Francesca sprang vergnügt auf, winkte Bernadette zum Abschied zu und lief mit wehenden Haaren davon.
Untere Isar-Aue bei Neufahrn,
Nähe München/Deutschland
Der schwarze Mercedes rollte in Schrittgeschwindigkeit fast lautlos über den schmalen Feldweg, der sich durch die Auen entlang der Isar schlängelte, hin und wieder Wiesen überquerte,
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