Falsch
verstummte, ihre Augen auf eine Kette aus Erinnerungen gerichtet, die nur sie sehen konnte. Dann setzte sie fort. »Ich bin stundenlang durch die Zimmer und über die Flure gegangen, hab alle Ecken durchstöbert, die Küche und den Keller, selbst den Dachboden. Die Geschichte hat gewispert, und die Geschichten haben sich auf meine Schulter gesetzt, wie kleine, bunte Vögel, die aufgeregt zwitscherten.«
Francesca brach ab, als hätte sie zu viel erzählt. Doch Bernadette lächelte sie ermutigend an. »Das klingt phantastisch«, meinte sie leise. »Ich hatte leider nie so ein besonderes Haus zum Spielen. Hat die Villa auch einen Namen?«
»Man nennt sie die Villa Borbone delle Pianore« , sagte Francesca begeistert. »Sie liegt in einem großen, mit exotischen Pflanzen zugewucherten Park, der in der Nacht ein wenig unheimlich ist.«
»Du warst auch im Dunklen dort?«, erkundigte sich Bernadette überrascht.
Das Mädchen nickte. »Im Erdgeschoss ist das Gemeindeamt untergebracht, und mein Vater musste oft an Sitzungen teilnehmen, die bis in die späten Abendstunden dauerten. Er nahm mich mit, und dann hatte ich das ganze Haus und den Park für mich.« Francesca lächelte. »Ich fürchte mich nicht wirklich im Dunkeln. Aber die Erwachsenen hören es immer gern …«
Bernadette musste lachen. »Wo warst du lieber, im Park oder im Haus?«
»Wenn so schönes Wetter war wie heute, dann im Garten«, erinnerte sich Francesca. »Da konnte man tagelang auf Expedition gehen, so groß war das Gelände. Man sah die erstaunlichsten Vögel, entdeckte verrostete Pavillons und vertrocknete Springbrunnen, Mauerreste und zugewachsene Wege. Der Park war wie verwunschen, in der Zeit erstarrt. Eines Abends zog ein Gewitter die Küste entlang, als ich im Garten spielte, und die Blitze erleuchteten den gesamten Horizont. Bevor die ersten Regentropfen herunterprasselten, war ich schon wieder über die Terrasse in die Villa geschlüpft und hörte dem Donner zu. Ganz oben, unter dem Dach, klang es, als ob Glasperlen auf die Schindeln fielen, hier und da von einem Kanonenschuss unterbrochen.«
»Hast du Licht gemacht?«, wollte Bernadette wissen.
Francesca schüttelte den Kopf. »In den oberen Stockwerken gibt es heute noch keinen Strom. Er wurde irgendwann abgeschaltet, weil man die brüchigen Leitungen nicht mehr ersetzte. Aber ich kenne mich gut aus, selbst ohne Licht. Ich habe den Plan in meinem Kopf.« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf ihre Schläfe. »Ich habe oft im Kinderzimmer von Zita gesessen und Kaiserin gespielt.« Sie lächelte verlegen. »Ich weiß, es ist kindisch …«
»Ach wo, ich habe auch jahrelang Prinzessin gespielt«, beruhigte Bernadette sie, »ich glaube, das hat jedes Mädchen. Wie sieht es heute in der Villa aus?«
»Es hat sich nichts verändert«, antwortete Francesca. »Ab und zu veranstaltet eines der umliegenden Hotels eine Hochzeit auf der Terrasse oder in einem der Säle, aber die oberen zwei Stockwerke bleiben stets geschlossen. Inmitten der alten Tapeten, der löchrigen Vorhänge und der knarrenden staubigen Böden kann man sich leicht vorstellen, dass es noch immer nach teuren Parfüms riecht, nach dem guten Essen, das im Kerzenschein serviert wurde.« Sie deutete auf das Buch in ihrem Schoß. »Die Kaiserin sprach genauso viele Fremdsprachen wie ich. Man sagt, sie sei sehr katholisch und gottesfürchtig gewesen. Sie hatte elf Geschwister.« Francesca sah auf ihre Hände. »Ich bin ganz allein.«
»Ich auch«, antwortete Bernadette einfach. »Das ist manchmal gut, manchmal schlecht. Ich kann mir Situationen vorstellen, in denen Geschwister furchtbar nerven.«
»Aber ich hätte mir oft welche gewünscht«, gab das Mädchen zurück. »Es ist schlimm, nicht aus seinem Kopf herauszukönnen. Vor allem dann, wenn die Bilder erdrückend werden …«
Bernadette schwieg und schaute über den Hof, wo Schatten mit dem Licht Fangen spielten.
»Du kannst dir das nicht vorstellen«, fuhr Francesca leise fort, »niemand kann das. Es ist schwer zu beschreiben und noch schwerer zu verstehen. Ein Schnellzug aus Farben und Formen, Blitzen und gleißenden Scheinwerfern. Aber er fährt nicht vorbei, er überrollt dich.« Sie sah die junge Frau ernst an, und es schien, als ginge ihr Blick durch und durch. »Und du entkommst ihm nicht. Niemals.«
Bernadette hatte plötzlich das Bedürfnis, das Mädchen in den Arm zu nehmen und ihr über den Kopf zu streichen. Doch in diesem Moment überraschte sie eine wie
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