Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Falsch

Falsch

Titel: Falsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Schilddorfer
Vom Netzwerk:
jung, schauen Sie sich doch an! Gerade aus den Kinderschuhen, schon hinein in die Militärstiefel. Was für ein Verbrechen an einer ganzen Generation … So viel Leid, so viele Tote, so viel Elend rundherum.« Sie schüttelte den Kopf und begann den Tisch aufzudecken. »Vor vier Tagen hat der Hofer, der Gauleiter, den Befehl zum Kampf bis zum Äußersten erlassen, bei einer Tagung hier in der Stadt. Sinnlos … Jetzt glauben selbst die eingefleischtesten Nazis nicht mehr an den Endsieg.«
    Sie verschwand kurz und kam nach wenigen Augenblicken mit einer großen Schwarte Speck wieder.
    »Die ersten Ausgebombten kamen schon im Juli 1943 hierher, aus dem Ruhrgebiet und vom Rhein«, erzählte sie. »Das holte einige hier in die Realität zurück. Dann trafen die Frontflüchtlinge ein, viele Esten, Letten, Rumänen – und Polen-Deutsche.«
    Sie drückte Willi ein Messer in die Hand und legte den Speck auf ein altes, verbrauchtes Schneidebrett in der Mitte des Tisches.
    »Vor drei Tagen waren es dann mehr als hundert Frauen und Kinder aus Wien. Sie waren sechs Tage lang in einem Sonderzug unterwegs. Als sie endlich in Bregenz ankamen, war Wien bereits von den Sowjets komplett eingeschlossen. Ich habe mich bei der Gemeinde gemeldet und bereit erklärt, so viele davon aufzunehmen, wie ich nur irgendwie unterbringen kann. Es ist ja ein großes Haus, ich habe Platz genug … Dann bin ich nicht so allein und den armen Menschen ist geholfen.«
    Willi hielt noch immer das Messer in der Hand und rührte sich nicht. Er starrte ins Leere, betroffen und mit seinen Gedanken ganz weit weg. Franz schob schweigend den Kaffeelöffel auf der Tischplatte vor und zurück, in einer stets gleichen Bewegung. Paul hatte die Hand vor die Augen gelegt und versuchte die Bilder zu verdrängen, die immer wieder hochkamen. Ernst schaute durch die geblümten Gardinen hinaus in den Garten, aber er sah weder die Narzissen noch die roten Tulpen, sondern Ströme von Blut, die den Boden tränkten.
    Franz schluckte und blickte auf, als die Hausfrau die volle Kanne vor ihn hinstellte und ein Lächeln versuchte.
    »Trinken Sie, es ist echter Bohnenkaffee, meine eiserne Reserve. Der Speck kommt von meinem Bruder aus dem Montafon. Er hat auf einer Berghütte ein paar Schweine versteckt und versucht, sie durchzufüttern.«
    Mit einem Kopfschütteln erwachte Willi aus seiner Erstarrung und legte das Messer beiseite. »Tut mir leid, aber ich kann nichts essen. Wenn ich nur eine Tasse Kaffee haben könnte …?«
    Eine halbe Stunde später standen die vier Freunde in einem großen, hellen Zimmer, das mit bemalten Bauernmöbeln eingerichtet war. Die Hausfrau öffnete die Türen der beiden Schränke weit und trat zurück. »Nehmen Sie, was Ihnen passt und was Sie brauchen können. Es ist alles da. Hosen, Hemden, Jacken, Schuhe, sogar der neue Mantel meines Sohns. Er hat ihn nie getragen …«
    Sie wandte sich ab und verließ rasch das Zimmer.
    »Ich komme mir vor wie ein Dieb«, murmelte Willi niedergeschlagen und sah ihr hilflos nach. »Das sind die Kleider eines anderen …«
    »Mir geht es genauso«, gestand Willi, »aber lasst uns praktisch denken. Wir brauchen etwas zum Anziehen, das nicht nach Uniform aussieht. Der Befehl lautet eindeutig: in Zivil über die Grenze.«
    Als sie Schritte auf der alten, hölzernen Treppe hörte, kam die Hausfrau aus ihrer Stube und ging zurück in die Küche. Sie kontrollierte das Feuer in dem großen Emailherd, der eine glühende Hitze verströmte.
    Etwas unsicher standen die vier jungen Männer vor ihr, ihre Uniformen zu einem Bündel zusammengepresst in der Hand, in Kleidern, die ihnen nicht gehörten.
    Sie warf ihnen einen Blick zu, lächelte wehmütig und nickte. »Na also, passt wie angegossen … na ja, nicht ganz, aber es wird gehen.« Dann streckte sie ihre Arme aus. »Geben Sie mir die Uniformen, wenn Sie die nicht mehr brauchen. Besser, wir lassen sie verschwinden.« Damit öffnete sie die große Ofenklappe und stopfte ein Stück nach dem anderen hinein.
    »Wir haben überlegt, wie wir uns erkenntlich zeigen können«, begann Paul, »aber wir haben leider kein Geld mehr. Was wir transportieren, das würde Sie nur ins Unglück stürzen, und nichts läge uns ferner, als das zu wollen.« Er schluckte. Dann griff er in seine Hosentasche und zog seine goldene Kette mit dem kleinen Anhänger hervor, ein Geschenk seiner Mutter. »Ich habe sie seit drei Jahren nicht mehr getragen«, sagte er leise. »Ich habe alles

Weitere Kostenlose Bücher