Falsch
bestickten Damast-Tischdecke. Es war ruhig in dem eleganten, reich mit Stuck verzierten Raum, in dem große, monumentale Ölgemälde Allegorien der vier Jahreszeiten darstellten. Nur die Parkettböden knarrten hin und wieder unter den Schritten der aufmerksamen Bedienung, die diskret und eilfertig versuchte, die Wünsche der illustren Gäste bereits im Vorfeld zu erahnen.
Der Krieg schien von dem elitären Platz am Rhein zwar weit entfernt, aber er hatte seine Spuren selbst in den besten Hotels Europas hinterlassen. Weniger Gäste, ein ausgedünntes Speisenangebot, hin und wieder eine mausgraue Uniform, an der Orden klimperten. Die Schweiz wurde zwar von vielen als ein anderer Planet betrachtet, ein sicherer Hafen für den Rückzug vor Elend und Leid, das Land befand sich jedoch auf dem gleichen Kontinent wie Verdun oder Compiègne.
Die Front war näher, als viele glaubten.
Seufzend legte Kronstein die in Basel erscheinende National-Zeitung aus der Hand. Keiner der Berichte war in irgendeiner Form ermutigend. Europa zerbrach, und jeder gab dem anderen die Schuld dafür. Die großen Strukturen, die völkerverbindenden Reiche gehörten der Vergangenheit an, da gab es keinen Zweifel. Seit Kaiser Franz-Joseph in Wien gestorben war, beschleunigte sich der Niedergang der alten Ordnung. Alles zerfiel, verschwand in einem gewaltigen Strudel des Umbruchs. Jeder Staat versuchte, das Beste dabei für sich herauszuholen, seine Bestrebungen mit den abenteuerlichsten Thesen zu untermauern. Was davon konnte man glauben?
Kronstein fiel die alte Weisheit Napoleons ein, der einmal gesagt hatte: Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat.
Als Pjotr Solowjov den Speisesaal betrat, riss er Kronstein aus seinen düsteren Gedanken. Der junge Student mit der Nickelbrille sah ausgeruht und fröhlich aus. Seine Haare standen widerspenstig nach allen Seiten und kontrastieren zu seinem makellos gebügelten Anzug und dem steifen weißen Kragen.
»Guten Morgen, Exzellenz!«, begrüßte er Kronstein, der ihn mit einer einladenden Handbewegung aufforderte, zu seiner Rechten Platz zu nehmen. »Der Service in diesem Haus ist vorzüglich, wenn ich das sagen darf. So gut hat mein Anzug nicht einmal ausgesehen, als er neu war. Und mein Hemd kann vor Stärke selbst gehen …«
»Das beste Haus am Platz«, bestätigte Kronstein. »Haben Sie gut geschlafen? Wir hatten eine lange Reise, und Sie haben eine noch längere vor sich. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir noch einige Tage Gesellschaft leisten könnten, sich ausruhen und ohne Hast auf die Rückfahrt nach St. Petersburg vorbereiten würden.«
Solowjov schnupperte genussvoll an der Tasse Tee, die der Kellner mit einer Verbeugung vor ihn hinstellte, gefolgt von Tellern mit Käse, Schinken, Wurst und Obst. »Sie führen mich in Versuchung, Exzellenz, und ich bedanke mich höflichst für Ihr großzügiges Angebot. Ich weiß es zu schätzen, und ich könnte mir keinen luxuriöseren Ort vorstellen, um ein paar Tage Ruhe und Entspannung zu genießen. Aber …«
Kronstein unterbrach ihn mit erhobener Hand. »Zumindest heute noch sind Sie mein Gast, bevor Sie die Heimreise antreten. Keine Widerrede. Die Revolution wird auf Sie warten.« Er deutete auf die Zeitschriften, die vor ihm lagen. »Man spricht von Schießereien, Toten, schweren Gefechten und chaotischen Zuständen. Sie versäumen nichts, glauben Sie mir.«
»In Russland wird Geschichte geschrieben«, gab Solowjov zu bedenken, während er Butter auf sein Croissant strich. »Auf diesen Moment haben wir gewartet, darauf hingearbeitet, gehofft und gebangt. Und jetzt bin ich nicht dabei, sondern weit weg vom Geschehen, sitze in einem Luxushotel in der Schweiz und genieße das Leben …«
»Lassen Sie mich eine Voraussage wagen, mein junger Freund.« Kronstein lächelte geheimnisvoll. »Sie werden an diese Tage noch oft zurückdenken, wenn die Entbehrungen und die Rückschläge, die Einschränkungen und Enttäuschungen Sie mürbe gemacht haben. Vielleicht werden Sie bedauern, mein Angebot nicht angenommen zu haben, als mein Sekretär bei mir geblieben zu sein.«
Solowjov nickte. »In der Tat, es mag sein, dass dies der Preis dafür ist, einem neuen Zeitalter den Weg zu bereiten. Dann sei es so! Wir sind ein kleines, aber abenteuerliches Stück des Weges gemeinsam gegangen, nun trennen sich unsere Lebenslinien wieder. Ich hoffe, ich konnte Ihre Erwartungen erfüllen, die Sie in mich gesetzt haben.«
»Voll und ganz«, beruhigte
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