Falsch
eigentlich auf harte Winter vorbereitet sein müsste, öffnete sich die Tür, und Kronstein betrat den Raum. Er sah zufrieden aus und nickte Solowjov lächelnd zu.
»Alles erledigt, mein Freund«, meinte er beschwingt. »Ich schlage vor, wir gehen Mittag essen. Gleich um die Ecke soll es ein stadtbekanntes Lokal geben, das ein hervorragendes Zürcher Geschnetzeltes serviert. Vielleicht kann ich Sie ja doch zum Bleiben überreden!«
»Exzellenz, der Bahnhof ist nicht weit von hier, und ich habe bereits nach dem Frühstück dem Concierge die Anweisung gegeben, meinen Koffer an die Station bringen zu lassen«, gab Solowjov zurück. Er zog seine Taschenuhr hervor und warf einen Blick darauf. »Nun, da ich weiß, dass Ihre Geschäfte zu einem glücklichen Ende gebracht wurden, möchte ich mich so rasch wie möglich auf den Heimweg machen.«
»Tja, dann rückt unser Abschied näher, fürchte ich.« Kronstein griff in seine Rocktasche und zog ein Kuvert heraus, das er dem jungen Mann reichte. »Hier sind einige Devisen, die Sie auf Ihrer Reise bestimmt gut brauchen können.« Als Solowjov etwas einwenden wollte, hob Kronstein die Hand. »Keine Widerrede. Nehmen Sie es an, mir zuliebe.« Er legte den Arm um die Schultern des Studenten. »Und jetzt kommen Sie, ich begleite Sie zum Bahnhof und nehme mir von da eine Droschke zurück zum Hotel.«
Als Samuel Kronstein nachdenklich dem ausfahrenden Schnellzug nach Berlin hinterherblickte, den Hut schwenkte und die winkende Hand Solowjovs mit dem weißen Taschentuch immer kleiner wurde, überraschte er sich dabei, tief in seinem Inneren ein Gefühl der Einsamkeit zu verspüren. Es kam ihm vor, als wäre mit der Abreise Pjotr Solowjovs die letzte Verbindung zu seiner alten Heimat gekappt worden. Nun war er tatsächlich und endgültig angekommen – in einer neuen Welt, einem anderen Leben, einer unvorhersehbaren Zukunft. Zu dem gewohnten Alltag in St. Petersburg, den er so geschätzt hatte, würde er nie wieder zurückkehren.
Die Schweiz war nun seine neue Heimat. Er würde hier seine letzten Jahre erleben, sterben und beerdigt werden, weit weg von den Gräbern seiner Vorfahren. Niemand würde an seinem Grabstein stehen, das Kaddish sprechen oder an ihn denken. Er war der letzte Kronstein, ohne Frau und Kinder, Brüder oder Cousins.
Er war das Ende einer Ära.
Der alte Mann schloss die Augen, der Winterwind fuhr durch seine weiße Mähne und zerzauste seine Frisur. Seufzend setzte er den Hut wieder auf und wandte sich um. Der Rauch der Schnellzuglok hatte sich lange verzogen, während auf dem Nachbargleis bereits der nächste Zug einfuhr und mit quietschenden Bremsen zum Halten kam. Mit offenen Armen eilten einige der Wartenden zu den Abteilen, um die neu Angekommenen zu begrüßen.
Ein ewiges Kommen und Gehen, dachte Kronstein wehmütig. Dann straffte er sich, gab sich einen Ruck und verließ mit großen Schritten den Perron in Richtung Bahnhofshalle. Für einen Moment überlegte er, in wärmere Gefilde weiterzuziehen, nach Italien oder Frankreich, an die Amalfi-Küste oder nach Korfu, an die Côte d’Azur oder nach Monte Carlo. Aber dann dachte er wieder an einen der typischen Sprüche seiner Großmutter Malka: »Wenn die Welt untergeht, dann gehen wir in die Schweiz.« Er musste schmunzeln.
Nun war er hier.
Und die Welt ging unter.
Flughafen El Dorado,
Bogotá/Kolumbien
Miguel Sanzarra sah aus wie ein vertrockneter, faltiger Karpfen, mit einem großen Mund und vorstehenden Lippen, fliehendem Kinn und einer Glatze, die in der Abendsonne leuchtete. Er trug ein weites Hawaii-Hemd mit großen, türkisen Blumen und eine helle Cargo-Hose, deren Taschen prall gefüllt waren. In der schwarzen Koppel, die er tief unter seinem ausladenden Bauch trug, steckte neben einer gewaltigen Taschenlampe eine großkalibrige Pistole. Als er John Finch aus der Albatross steigen sah, eilte er lachend die letzten Meter bis zur ausgeklappten Gangway und verscheuchte die jungen, uniformierten Zollbeamten mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Ich übernehme ab hier«, bellte er autoritär, »ich kenne dieses Fliegerass schon zu lange.«
»Sagtest du Aas oder Ass?«, erkundigte sich Finch grinsend und schüttelte Sanzarra die Hand. »Ich wusste gar nicht, dass du eine Stelle am Flughafen hast, du alter Ködervernichter. Badest du die Würmer immer noch, oder fischst du schon?«
Sanzarra sah über die Schulter Finchs und beobachtete Fiona, die mit steifen Beinen vorsichtig aus der Albatross
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