Falsche Brüder
hatten.
Ich musste mich…zigmal ausweisen, musste warten, warten…
Schließlich nahm ich es sarkastisch-heiter. Es wirkte auch
nachgerade lächerlich, wenn einer, der von der Front kam, noch
dazu mit so genannten Verdiensten, unnütz in die Ecke gestellt
wurde, um sich brandende, blasierte Geschäftigkeit, deren jede
einzelne Aktivität wahrscheinlich gegen das Geschehen da
draußen, gegen den Tod vieler, überhaupt nichts auf die Waage
brachte.
Ich fühlte mich dann auch nicht brüskiert, als man mir im
dritten Vorzimmer eröffnete, dass General Suiter mich an
diesem Tag nicht mehr empfangen könne, ich morgen um neun
Uhr wiederkommen solle.
In einem nahe gelegenen Hotel, das ebenfalls nur von Militärs
belegt war, bekam ich Quartier zugewiesen.
Später, die Nachmittagssonne strahlte noch warm, spazierte ich
auf der Strandpromenade. Rechts, hinter einer kleinen Mauer
und nach einem Streifen feinen Sandes, plätscherten die
Ostseewellen. Hunderte von Sonnenhungrigen rekelten sich auf
dem Strand oder in unzähligen Körben. An den Kiosken drängte
man sich, saß auf Bänken, schrieb Ansichtskarten, aß in den
kleinen Cafes Eis, labte sich an Limonaden und Kuchen. Man
flirtete, tobte im Wasser, promenierte. Urlaub eben. Nichts, aber
auch nicht das Geringste hätte den Unbefangenen darauf
aufmerksam gemacht, dass diesem Leben irgendwo irgendeine
Gefahr drohte, dass dies friedfertige Müßiggehen und
Faulenzen jäh zu Ende sein könnte.
Ich eroberte eine Bank, ließ das bunte Treiben an mir
vorüberziehen. Träumte ich? Oder war ich gerade aus einem
bösen Traum erwacht? Begreifen konnte ich nicht. Wussten
diese Menschen etwa nicht, was sich dort, einen Katzensprung
entfernt, im Norden Finnlands tat? Oder war es ihnen doch
noch zu weit ab, interessierte nicht, wie dort ständig Menschen
massakriert wurden? Sahen sie nicht die Gefahr, die allein von
der überlegenen Technik der Angreifer ausging, konnten diese
nicht, wenn es ihnen gerade so einfiel, morgen, in der nächsten
Stunde sogar hier auf den Strand stürmen und ihre Blitze ohne
jede Vorwarnung erbarmungslos in die nackten Leiber spießen?
Bitterkeit empfand ich, als ich daran dachte, dass Dagmar in
übertriebenem – ja übertriebenem! – Pflichtbewusstsein jetzt in
Inari weilte, jeden Augenblick gewärtig, dass die Angreifer
wieder gegen Süden vordrangen.
Eine lärmende Gruppe junger Leute zog an mir vorbei.
Setzten diese Menschen soviel Vertrauen in die – solche wie
mich –, die da im Norden etwas ausrichten wollen? War uns,
befreit von sozialen Kämpfen, lebend nach den Bedürfnissen, die
Sorge um das Ganze abhanden gekommen?
Hatten die Menschen, hatte der Einzelne überhaupt jemals
diese Sorge? Wurde sie nicht stets von verantwortungsvollen
Regierungen bewusst gemacht?
Ich streckte mich auf der Bank, legte, das Gesicht in die Sonne
haltend, den Kopf auf die Lehne. Langsam empfand ich die
wohlige Wärme, und mir wurde klar, dass ich einige geschenkte
Urlaubsstunden vor mir hatte, vielleicht sogar Tage. Und wer
weiß, was mich erwartete…
Ich schreckte aus dem Schlummer und richtete mich
schlagartig auf, als ich Geräusche dicht neben mir vernahm und
gleichzeitig von einer Mädchenstimme angesprochen wurde:
„Na, fröhlicher Urlauber, gestattet? Hat man dir das Mittagessen
versalzen?“
Ich drehte den Kopf nach links und nach rechts. Ich saß
zwischen zwei fröhlichen, mäßig bekleideten Mädchen, nicht viel
jünger als ich selbst. Sie lachten. „Hab keine Angst“, frotzelte
die andere, eine Blonde mit einem runden Gesicht und großen
Zähnen. Ihre Stimme klang heller als die der sonnengebräunten
Dunkelhaarigen mit den sanften Augen, die mich zuerst
angesprochen hatte. „Wir knabbern dich nicht an!“
„Ach“, sagte ich nicht eben originell. Dann beeilte ich mich,
meine im Augenblick sicher dümmliche Miene in eine der
Situation angepasste zu verwandeln. Überrascht fühlte ich mich
schon, aber keineswegs unangenehm. „Hallo“, rief ich.
„Mittagessen ist ausgefallen.“
„Und – da bist du sauer!“, stellte die Dunkelhaarige fest. „Bei
dem Wetter. Der erste schöne Tag in unserem Urlaub. – du bist
auch nicht von hier? – Ich bin Irene.“
„Ich – Igor.“
„Marien.“
„Ich bin keineswegs sauer!“ Dann ergriff ich die Initiative.
„Essen wir ein Eis? Hast Recht, von hier bin ich nicht. Ich gehöre
dort dazu.“ Ich wies mit dem Kopf zum Hotel, das unweit der
Bank in den Himmel ragte.
„Ach!“
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