Falsche Brüder
überdurchschnittliches Pflichtbewusstsein vermutete,
habe sie das alles ertragen. Doch wie könnte ich angesichts der
Gräuel an Urlaub denken! Natürlich würde sie liebend gern,
eher heute als morgen, mit mir leben wollen, vielleicht eine
Familie gründen. Aber wie ich mir das vorstellte, wenn nach wie
vor diese Wüteriche hausten, vielleicht mit der Absicht, die
gesamte Menschheit zu vernichten oder zu verblöden,
was
schließlich auf das gleiche hinausliefe. Was wohl wäre, zögen sich
alle in einen Urlaub zurück!
Wie kühl sie auf meinen heftigen Einwand reagierte, dass es
zwar um die Menschheit gehe, der verlorene Haufe aber, der hier
stehe, sie wohl äußerst dürftig repräsentiere und dass sich nun
auch einmal andere die Blitze um die Ohren sausen und bei
lebendigem Leib die Eingeweide sezieren lassen könnten!
Erstens, so sagte sie, würden die Aggressoren von Tag zu Tag
mehr werden, zweitens könne man sie nicht mit bloßen Händen
aufhalten, und drittens habe sie das Verhalten anderer nie
besonders interessiert, zumal dann nicht, wenn es nicht den
Erfordernissen entspreche. Und dann sagte sie das
Entscheidende:
„Wenn du, Igor, nervlich angegriffen bist – schließlich warst du
in der vordersten Linie – und dir danach zumute ist, musst du
um Urlaub nachsuchen. Aber ich bleibe.“
Mein Versuch, sie zu überreden: „Du hast gesehen, Dag, wie
schnell es gehen kann – und einer von uns beiden ist nicht mehr.
Ich liebe dich! Ich will dich nicht verlieren.
Begreif doch! Wir sollten der Gefahr ausweichen, wenn es
irgend möglich ist. Wir könnten doch auch anderwärts am
Kampf teilnehmen, beim Auftreiben von Waffen oder in der
Rüstung arbeiten. Dort wird doch auch etwas gegen sie auf die
Beine gestellt, Dagmar!“ Beschwörend hatte ich das gesagt, hatte
sie an mich gezogen und ihren Kopf an meine Schulter gedrückt.
Sie ließ es geschehen, löste sich dann behutsam, schüttelte
langsam den Kopf. In ihren Augen aber schwammen Tränen.
„Ich bleibe, Igor.“
Da kam der Ärger in mir hoch. Und bevor ich, so gestimmt,
Schlimmes, vielleicht nicht wieder Gutzumachendes, von mir
gegeben hätte, hatte ich mit rauer Stimme bemerkt: „Überleg es
dir. Nach Rostock muss ich sowieso. Bis ich wiederkomme…“
Es drängte überlaut eine Menge Leute ins Abteil. Sie
schimpften auf die sturen Eisenbahner, mehr aber auf die
Militärs, die außer Stande seien, auch nur eine Maus gegen die
Angreifer zu schützen, jedoch alle Vorteile in Anspruch nähmen.
Keine Macht der Welt werde sie selbst wieder aus dem Abteil
bekommen.
Junge Männer befanden sich auch darunter. Ich stellte mir vor,
wie ihre jetzt aufschneiderischen Gesichter wohl nach dem
ersten Blitzhagel im Feld aussehen würden, was sie wohl sagten
und wie sie schauten, wenn neben ihnen der Kumpel
verschmorte. Aber irgendwie Recht hatten sie doch. Was schon
hatten die Aktionen der Menschen erreicht, wie viele sinnlose
Opfer bis jetzt…
Ich ließ mich nicht provozieren. So ohne weiteres war ich als
Angehöriger einer Armee-Einheit nicht zu erkennen. Ich drückte
mich in meine Ecke und versuchte zu schlafen. Die Fahrt, wenn
sie reibungslos verlief – im allgemeinen verspäteten sich der
Militärtransporte wegen die Züge –, würde bis Helsinki zwölf
Stunden dauern. Erst von dort aus konnte ich die Reise per
Flugzeug fortsetzen. Natürlich, den Werfer hatten sie mit einem
Jet vorausgeschickt. Um Untersuchungsvorlauf zu schaffen.
Man hatte das restaurierte Hotel Neptun in RostockWarnemünde zum Sitz des Operativstabs Front umfunktioniert.
Mir blieb verschlossen, weshalb gerade dieser Ort gewählt
worden war. Jemand sagte, weil man den Hafen gut für das
Zusammenstellen von Transporten nutzen könne und weil alle
europäischen Verbindungen zu dieser Stadt günstig verliefen.
Wie dem auch war, ich dachte: Rostock ist vom Schauplatz
recht weit entfernt. Und die Kampfführung rechnete wohl nicht
damit, dass der Angriff sehr bald zum Stehen kommen würde.
Rostock als Sitz des Stabes, jenseits der Ostsee, würde also
längere Zeit zu nutzen sein, und so sah ich das auch, das war
schon wertvoll.
Nach den ersten Minuten in diesem Haus vermittelte sich mir
der Eindruck, dass
– wie bei anderen einschneidenden
Ereignissen auch – zunächst einmal Unwissen, Unvermögen,
mangelnde Selbstsicherheit und Misstrauen in Folge befürchteter
geistiger Überlegenheit Subordinierter eine entnervende
bürokratische Barriere errichtet
Weitere Kostenlose Bücher