Falsche Brüder
Welt freundlicher, wärmer
geworden.
Rechter Hand standen Heureuter am Ufer. Im Grau der
Morgendämmerung schien es mir, als lugten Dächer aus dem
Bewuchs.
Da krachten Schüsse, und in der Nähe des Kahns fauchten
die Einschläge ins Wasser.
Wir warfen uns flach in das Boot. Es krachte erneut. Holzspäne
flatterten. Ich zog in aller Hast einen Riemen ein, band daran
Dagmars Hemd und schwenkte das Ganze in die Höhe.
Noch zwei Schüsse knallten, dann trat Ruhe ein.
Unendlich langsam hob ich den Kopf, spähte über den
Bootsrand dorthin, wo ich den Ursprung der Schießerei
vermutete. „Nicht schießen“, schrie ich. „Was schießt ihr
überhaupt, ihr Ochsen! Wir sind von euch!“ Gleichzeitig wedelte
ich erneut mit unserer weißen Fahne.
Zögernd lösten sich zwei Männer aus dem Gebüsch. Sie traten,
Gewehre im Anschlag, ans Ufer.
„Anlegen“, befahl der eine, und er machte einen
nachdrücklichen Schlenker mit dem Gewehrlauf.
Die Schüsse, so dümmlich sie waren, gaben Sicherheit. Die
Fremdlinge schossen nicht mit Pulver und Kugel.
Knirschend schob sich der Kahn in den Uferstreifen.
„Habt ihr etwas anzuziehn und zu essen?“, fragte ich.
„Wo kommt ihr her?“, herrschte uns der offenbar
Höherchargierte an. Rangabzeichen trugen beide nicht.
„Komm, lass den Unfug!“ Ich wurde ungehalten. „Ich möchte
sofort einen Offizier sprechen!“ Ich hob den Werfer aus den
Kahn. Sofort gingen die beiden wieder in Abwehrstellung.
„Macht euch nicht in die Hosen“, sagte ich amüsiert. „Los jetzt,
ich friere wirklich. Einen Offizier!“
„Das hat Zeit, Igor. Du musst etwas auf und in den Leib
bekommen, das ist wichtiger“, sagte Dagmar.
„O, das ist wichtig!“ Ich klopfte an die Kanone.
Es sah aus, als wollte Dagmar wütend werden. „Es reicht mir
langsam“, fauchte sie.
„Wir haben Wache“, erklärte der eine der Posten.
„Und?“
„Wir können den Standort nicht verlassen, ihr bleibt bis zur
Ablösung.“
„Komm, Dagmar, die sind übergeschnappt!“ Ich fasste den
Werfer fester und schritt auf das Gebüsch zu, das uns von den
ersten Häusern Inaris trennte.
Mittlerweile war es hell geworden, und ich meinte, Einzelheiten
der Siedlung wieder zu erkennen.
Meine Erregung hatte sich bereits gelegt, dennoch fühlte ich
mich lustlos und grollte.
Ich stand im Zug, hatte den Kopf gegen die Fensterscheibe
gelehnt und nahm nur oberflächlich das Geschehen draußen
wahr. Eine Unmenge Kriegsmaterial wurde auf
dieser
nördlichsten Eisenbahnstation entladen, das dem Aufbau einer
neuen Verteidigungslinie dienen würde. Ich zog sarkastisch die
Mundwinkel nach unten und stieß den Atem aus. Zu deutlich
erinnerte ich mich noch, wie sie die erste dieser Linien vom
Erdboden hinweggeblasen hatten. Zugegeben, diesmal sah die
Technik anders aus, aber einige museale T34-Panzer entdeckte
ich ebenfalls wieder. Bombenflugzeuge würden die Menschen
nunmehr einsetzen und Artillerie aus dem Hinterland…
Zunächst aber musste das Material an die vierhundert Kilometer
gen Norden transportiert werden. Wenn die das mitbekamen,
war das alles verkohlt und verklumpt, noch ehe ein einziger
Schuss damit abgefeuert worden war.
Aus dem Nachbarabteil hörte ich Stimmen junger Leute, die
sich lebhaft über das, was sie sahen, unterhielten. Und sie
schienen sich schwärmerisch einig, dass dies die Mittel nun
wären, um es ihnen zu zeigen, diesen Geiern.
Am Zug entlang zogen Gruppen von Menschen mit schwerem
Gepäck. Flüchtlinge. Alle Züge, die nach den Süden fuhren,
voll Menschen, die man evakuiert hatte, zuerst dort, wo
vermutlich mit dem Vordringen der Fremden zu rechnen war.
Aber die Rechnung ging nicht mehr auf. Von dem Kraftfahrer,
der mich die vierhundert Kilometer nach Rovaniemi gefahren
hatte, war mir berichtet worden, dass die Invasoren wieder
einmal die Taktik geändert hätten. Mehrere Tage sind sie nicht
vorgerückt. Zehn Kilometer nördlich von Inari sind sie stehen
geblieben – vorläufig. Aber es gingen laufend Meldungen ein: sie
verbreiterten das besetzte Gebiet nach Osten und Westen,
stießen dabei auf keinen Widerstand, weil sich die Streitmacht
der Menschen im Süden konzentrierte. Von einem Gerücht hatte
der Fahrer erzählt: Sie schürften von den dürftigen Feldern die
obere Erdschicht und brächten diese in ein riesenhaftes, von
ihnen errichtetes Gewächshaus. In diesem Haus müssten
Hunderte von Menschen arbeiten, die sie dafür in einer
unbekannten Weise willfährig gemacht hätten. Sie
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