Falsche Nähe
in den Hintergrund. Der Verlag organisiert eine kleine Feier in einem Edelrestaurant. Noa und Miriam verbringen einen herrlichen Samstagnachmittag mit Shopping und Kino. Tags darauf trifft Noa sich mit Daniel, ganz spontan, nachdem sie seine Nummer auf dem Display nicht erkannt hat und aus Neugier rangegangen ist.
Sie gehen an der Elbe spazieren, denn das Wetter ist jetzt uneingeschränkt schön, da die Wärme geblieben ist, während Wüstenstaub und Wolken sich verflüchtigt haben. Daniel ist schon in Ordnung, nicht ihr Typ, aber ein guter Freund zum Reden. Sie gibt ihm einen Wink in Sachen Miriam. Vielleicht wird ja etwas daraus. Noa würde sich freuen.
Liebe im Anflug – als hätte Noa es geahnt. Leider trifft Amors Pfeil nicht ihre beste Freundin, sondern Audrey. Der Mallorca-Fatzke ist am Ball geblieben. Dass seine Bemühungen Anklang finden, zeigt sich anfangs dadurch, dass Audreys nächtliche Marathonsitzungen am Notebook zu Sprints mutieren: hektisches Tastatur-Stakkato, bis ihr Handy sie unterbricht. Anders als sonst, wenn sie mit Schreiben beschäftigt ist, nimmt sie die eingehenden Gespräche allesamt entgegen, schleicht sich zum Telefonieren sogar nach draußen auf die Dachterrasse, genau wie Noa es in der Anfangsphase mit Jannis getan hat. Unter Sternen, die Lichter des Hafens zu Füßen, steht sie am Geländer, kichert, flüstert, streckt die Brüste raus und wirft den Kopf in den Nacken, als könnte der Typ am anderen Ende der Mobilfunk-Verbindung sie sehen. Der Fluss schwarz wie Tinte. Noa lauert hinter dem Vorhang und beobachtet die große Schwester halb amüsiert, halb besorgt.
Eines Morgens im Bad dann der Schock: Audreys Giftwind-Eroberung steht am Waschbecken und putzt sich die Zähne, als Noa noch halb im Traum Richtung Toilette taumelt. Am Abend zuvor war noch alles nach Protokoll verlaufen, Telefonflirt und Gekicher auf der Terrasse, diesmal jedoch eindeutig mit anderem Ausgang: Komm doch mal rüber, Mann. Oder so ähnlich.
Und da ist er nun: Arne, Architekt, Voyeur, derjenige, mit dem laut Audrey alles anders ist. Blaue Boxershorts, Knubbelknie, Zahnpastaschaum vor dem Mund. Noa hat ihn weder eintreffen hören, noch sind verdächtige Geräusche aus Audreys Zimmer zu ihr hinübergedrungen. Sie hat so tief geschlafen wie lange nicht mehr, entsprechend groß ist nun ihre Verwirrung. Wollte Audrey es nicht langsam angehen lassen? Ist das da etwa ihr Zahnputzbecher?
»Hallo, ich bin Arne.« Er hat sich den Mund ausgespült und hält Noa die Hand hin. Sie ergreift sie wie in Trance. Audrey hatte recht, seine Stimme hat wirklich was. Eine Tonlage zwischen Bass und Bariton, dabei ziemlich sonor.
»Du musst Noa sein«, moderiert Arne, als sie nicht auf die Idee kommt, sich ihrerseits vorzustellen. »Schön, dich kennenzulernen, wenn auch etwas überraschend, so früh am morgen.«
»Das können Sie laut sagen.«
»Oh, wir können uns meinetwegen gern duzen. Ich heiße Arne, wie gesagt.«
Egal, wie er heißt, einerlei, wie sonor und einschmeichelnd sein Bassbariton tönt – Noa wünschte, er würde verschwinden. Er ist ein fremder Mann mit einem sehr fremden Geruch und sie trägt nichts als ein weißes Nachthemd am Leib. Sie muss aufs Klo, dringend.
»Sag mal, würde es dir viel ausmachen, die Gästetoilette zu benutzen?« fragt Arne mit einem etwas zu selbstbewussten Lächeln, das eine Reihe gerader, frisch geputzter Architektenzähne entblößt. »Ich bin hier nämlich noch nicht ganz fertig.«
»Kein Problem«, murmelt Noa.
Aber es ist eins. Und was für eins. Zurück in ihrem Zimmer lässt sie ihrer Empörung freien Lauf, befördert ihren Schulrucksack mit einem Tritt unter den Schreibtisch, anschließend hält sie sich den schmerzenden großen Zeh und muss unweigerlich daran denken, was Audrey über die familiäre Neigung zu unkontrolliertem Verhalten gesagt hat. Alles Quatsch, sie ist nicht so. Es ist bloß ungewöhnlich, in aller Frühe im eigenen Badezimmer von einem wildfremden Typen angequatscht und ins Gäste- WC verbannt zu werden. Die Frechheit treibt ihr die Hitze in die Wangen. Was bildet der Kerl sich eigentlich ein? Warum, glaubt er, heißt es wohl »Gäste- WC «?
Auf der Suche nach moralischer Unterstützung nimmt Noa ihr Smartphone zur Hand, die kinderleichte Bedienung des Touchscreens auf beruhigende Weise vertraut, und geht ihre Möglichkeiten durch. Sie könnte natürlich Miriam anrufen oder besser gleich für alle posten, was ihr widerfahren ist. Der maximale
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