Falsche Nähe
im Kurs, oder?«
»Mehr oder weniger.« Noa liebt Sushi. Der süßliche Klebreis hat etwas Tröstliches, der pure Geschmack des rohen Fischs wirkt auf sie wie eine Energiequelle. Dazu die Optik: wie dänische Bonbons.
»Ach, Süße, lass mich nicht so zappeln. Du siehst echt hungrig aus. Komm, sei lieb.«
Komm, sei lieb. Noa ist immer lieb, was bleibt ihr anderes übrig? Wenig später herrscht zwar keine Eintracht, aber Waffenruhe, als sie Seite an Seite auf den Barhockern am Küchentresen sitzen und gemeinsam zu Mittag essen, den Hauch der Elbe im Nacken. Es schmeckt wunderbar. Alles könnte perfekt sein – würde nicht dieser Wind durch die Wohnung streifen wie ein Gespenst. Das fehlende Fenster eine klaffende Wunde in der einst so vollkommenen Glasfassade. Die Handwerker machen keine Fort-, sondern Rückschritte, irgendetwas muss schiefgelaufen sein. Vielleicht hätte Audrey sie besser die ganze Zeit überwacht.
»Das wird bestimmt teuer«, sagt Noa.
»Ich dachte, wir lassen es über die Tierhaftpflicht laufen.«
»Du willst das echt Pancake in die Schuhe schieben?«
Audrey lacht. »In die Pfoten, meinst du wohl. Hast du doch gestern Abend auch gemacht.«
»Ja, aber das war bloß vor Tom. Die Versicherungen schicken vielleicht einen Ermittler, um unsere Story zu überprüfen.« Noa hat so etwas im Fernsehen gesehen, in einer dieser schrägen Doku-Soaps: Die Leute kommen ins Haus und stellen jede Menge unangenehme persönliche Fragen. »Stell dir mal vor, die finden raus, was du gemacht hast.«
»Und dann gelte ich offiziell als verhaltensgestört, oder was? Ist das deine Sorge?«
Noa antwortet nicht.
»Die Sache ist dir richtig peinlich, stimmt’s?«
»Dir nicht?«
Audreys linke Hand verharrt mit einem gekonnt zwischen den Stäbchen platzierten Tekka-Maki. »Ich finde, du solltest nicht so eine große Sache daraus machen«, sagt sie. »Es wird nicht wieder vorkommen.«
»Wie kann ich mir da sicher sein? Du hättest dich mal sehen sollen, letzte Nacht.«
»Mir ist schon klar, dass ich ziemlich durch den Wind gewesen bin.«
»Audrey, es war mehr als das. Du warst völlig entfesselt.«
»Ab und zu braucht man das eben.«
»Ich nicht.«
»Du auch. Du weißt es nur noch nicht. Das liegt bei uns in der Familie.«
»Dann erzähl mir was über unsere Familie. Jetzt gleich. Damit ich nicht ganz so überrascht bin, wenn ich demnächst in der Schule plötzlich anfange zu randalieren oder Feuer zu legen oder was weiß ich.«
Audrey winkt ab. Isst ihr Sushi. Je länger sie probiert, den Vorfall runterzuspielen, desto mehr fühlt sich Noa in ihrer Beunruhigung bestärkt.
Die Diskussion dreht sich im Kreis, bis sie durch einen der Glaser unterbrochen werden. Der Schaden ist endlich behoben. Audrey zeichnet die Rechnung gegen, ohne die Versicherung ins Spiel zu bringen, augenscheinlich hat sie nun doch vor, den Betrag stillschweigend zu überweisen, was Noa erleichtert zur Kenntnis nimmt. Kaum haben die Handwerker mitsamt der beschädigten Fensterscheibe das Apartment verlassen, taucht der Kater auf der Bildfläche auf und reibt schnurrend seine Flanke an dem fabrikneuen Glas, lässt sich von ihnen beiden streicheln. Seine Welt ist also wieder im Lot – falls der Vorfall ihn tatsächlich beunruhigt haben sollte.
Auch Audrey wirkt zufrieden. Um den sonst so scheuen Kater in seiner guten Laune zu bestärken, pflückt Noa ihr letztes Maki-Röllchen auseinander und hält ihm das winzige Stückchen Lachs hin. Unterdessen schaut sie nach draußen. Alles unverändert. Frachter, lang gezogene Flusskähne aus Dresden oder Magdeburg, weiter weg die gelbe Hafenfähre, die Besucher zum Gelände des König-der-Löwen-Musicals übersetzt. Derselbe milchige Himmel wie gestern.
Noa wird länger brauchen als Audrey und Pancake, sich an die neue Fensterscheibe zu gewöhnen. Nicht dass sie anders wäre als die alte, jedenfalls nicht auf den ersten Blick und auch nicht auf den zweiten. Dennoch kommt es ihr vor, als könne sie den Riss wie einen Schatten auf einem Röntgenbild weiterhin wahrnehmen, vielleicht weil sie ihn beim Zusammenfegen der Scherben so gründlich betrachtet hat. Als habe er sich in ihre Netzhaut eingebrannt. Der grandiose Ausblick ist ihr verleidet. Diese gezackte Linie. Wie ein eingefrorener Blitz.
Rückkehr in den Alltag. Audrey erhält die Nachricht, dass sie einen wichtigen und hoch dotierten deutschen Krimipreis gewonnen hat. Die Freude darüber drängt die Unstimmigkeiten um ihr neues Buchprojekt
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