Falsche Nähe
zuverlässige Schülerin, die pünktlich und halbwegs vorbereitet im Unterricht erscheint. Nach einer Weile gelingt es ihr, die Ereignisse der vergangenen Wochen komplett zu verdrängen. Sie kann sich glücklich schätzen, dass zwischen Audrey und ihr alles wieder beim Alten ist.
Die Schwester wittert ihre Chance und brummt Noa erneut eine gemeinsame Unternehmung mit Arne auf, ein Sonntagsausflug, weitaus lästiger als ein simples Abendessen, allein schon, weil viel mehr kostbare Freizeit dafür draufgehen wird, mindestens drei, vier Stunden. Typisch. Kaum zeigt man mal Schwäche.
Wie befürchtet steht diesmal noch ein weiterer Glückspilz auf der Gästeliste: Arnes Sohn Moritz. Patchwork in Progress. Noa bekommt allein vom Gedanken daran schlechte Laune, sie kennt aus der Schule einige dieser komplizierten, künstlich erschaffenen Familiengewächse und weiß, wie schwierig es für die beteiligten Kinder ist, ihre Stellung zu behaupten, während die Erwachsenen im siebten Himmel schweben und so tun, als hätten sich plötzlich alle wer weiß wie lieb.
Was beinahe putzig ist: Aus unerfindlichen Gründen soll es in den Wildpark Schwarze Berge gehen. Als seien sie beide noch klein und würden sich beim Anblick niedlicher Hängebauchschweine aus lauter Entzücken auto matisch anfreunden. Sie kommt sich auf den Arm geno mmen vor, hält sich aber mit galligen Kommentaren zurück.
Bis Sonntag läuft alles glatt. Im Auto – sie sind noch zu zweit – schießt Noa ihre guten Vorsätze in den nasskalten Herbstwind und jammert Audrey die Ohren voll. »Können wir nicht einfach woanders hinfahren? In den Snow Dome oder so? Bei dem Wetter habe ich echt keinen Bock, durch den Wald zu latschen und irgendwelche degenerierten Viecher anzustarren. Die sind bestimmt auch alle mies drauf heute. Stell dir mal vor, wie matschig es da ist.«
»Und wenn schon. Du hast doch Stiefel an. Nachher kommt bestimmt noch die Sonne raus, du wirst sehen, das wird nett. Die Laubfärbung ist besonders schön dieses Jahr.«
»Durch die rosarote Brille vielleicht.«
Sie haben den Elbtunnel hinter sich gelassen, der fahle Himmel spannt sich wie ein schmutziges Laken über die Autobahn nach Süden. Aus einer tief hängenden Wolke beginnt es zu tröpfeln. Von Sonne keine Spur.
»Wer hatte eigentlich den brillanten Einfall, uns in den Zoo zu verfrachten?«
»Ich. Früher waren wir immer so gern dort, auch bei schlechtem Wetter.«
»Früher wollte ich auch Tierärztin werden.«
»Außerdem wohnt Moritz mit seiner Mutter ganz in der Nähe. Das ist doch praktisch.«
»Ist nicht dein Ernst. Der kommt aus Harburg?« Angewidert schüttelt Noa den Kopf. Der dickliche Volltrottel, den sie im Geiste vor sich sieht, wenn sie an Moritz denkt, bekommt als Extra noch eine proletenhafte Note verpasst. In Harburg in den Tierpark zu gehen, ist eine Sache, dort zu leben, eine andere. Die falsche Elbseite, verlorenes Land. Ein Eldorado für ewige Verlierer und Terroristen. Wie inzwischen die ganze Welt weiß, haben die Attentäter des elften September dort an der TU studiert.
Der Regen wird stärker. Audrey schaltet den Scheibenwischer ein. »Komm mal runter von deinem hohen Ross, Süße«, sagt sie und tritt das Gaspedal durch, dass die Beschleunigung sie angenehm gegen den Sitz drückt. Geschwindigkeitsbegrenzung aufgehoben. Der BMW schnurrt sonor vor sich hin, auch noch, als die Nadel des Drehzahlmessers sich zitternd dem roten Bereich nähert. Die Fahrbahn verläuft an dieser Stelle auf Brückenpfeilern, schneller und schneller rumpeln sie über die Schweißnähte der Bodenplatten hinweg, wie eine ICE -Lok über Eisenbahnschwellen.
»Da gibt es auch sehr gute Wohnviertel. Arne hat vor zehn Jahren in Eißendorf sein erstes selbst entworfenes Haus bauen lassen, ein richtiges kleines Schmuckstück für sich und seine Frau.«
»Die er dann deinetwegen hat sitzen lassen.«
»Nein, so war es nicht.«
»Sondern?«
»Woher soll ich das wissen? Sie haben sich eben getrennt, nicht erst gestern, sondern schon vor Jahren. Das soll vorkommen, auch wenn man Kinder hat.«
»Ja, und die müssen es dann ausbaden.«
Keine Antwort.
Noa fühlt sich nur kurz als Siegerin. Die restliche Strecke hängen sie ihren Gedanken nach, geteilte Sprachlosigkeit unterlegt vom Zischen der Reifen auf nassem Asphalt, dem Geräusch des Scheibenwischers. An der Art, wie Audrey das Lenkrad umklammert, merkt Noa, dass sie es geschafft hat, ihr ebenfalls die Stimmung zu vermiesen. Das ist
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