Falsche Nähe
Wartezeit wäre auch zu lang gewesen, jetzt, wo die Sache ins Rollen gekommen ist. Ach ja, und was Annemarie S. betrifft – ich habe getan, was ich konnte. Es ist ja nicht so, dass es auf der Bahrenfelder Chaussee nachts von greisen Blumenverkäuferinnen nur so wimmeln würde. Ich würde sagen, unter den gegebenen Umständen habe ich meine Sache gut gemacht. Immerhin trug ich Weiß.
Schade, dass ich jetzt auch noch für den künstlerischen Aspekt unserer Mission verantwortlich bin, denn das liegt mir weit weniger, als auf einem Motorrad durch die Stadt zu brausen, bereit, zu töten.
Aber das bekomme ich auch noch hin, das Schreiben fängt gerade an, mir Spaß zu machen. Kein Wunder, dass SIE so viel Zeit damit verbringt.
Ich kann alles schaffen, weißt du. Hauptsache, wir sind zusammen, sie und ich. Nie war ich IHR näher als jetzt. Die Liebe wird siegen.
Deswegen mache ich weiter. Das nächste Opfer schlägt vielleicht gerade die Haustür hinter sich zu, ein Mann, eine Frau, jung, alt – egal. Keine Vorgaben diesmal, ich habe also freie Hand.
Es könnte jeden treffen.
Du könntest es sein.
Zugvögel
D er Wollmantel hat die Farbe roher Leber, die Noa bei besonderen Anlässen als Festmahl für Pancake zurechtschneidet, ein dunkles Rot mit Lilastich. Audrey zufolge enthält das flauschige Gewebe einen hohen Kaschmiranteil und ist daher besonders warm, ohne zu beschweren. Affektiert dreht sie sich vor Noa im Kreis, um den figurbetonten Schnitt und die Zierleiste auf dem Rücken vorzuführen, anschließend präsentiert sie das Innenfutter. Reine Seide. Fischgrätmuster. Sie ist völlig aus dem Häuschen wegen dieses Mantels, und das hat einen simplen Grund: Arne hat ihn ihr geschenkt. Für eine Frau, die sich von ihrem eigenen Geld so gut wie jeden Kleiderwunsch eigenständig erfüllen kann – und mindestens ein Mal pro Monat am Neuen Wall zuschlägt bis die Kreditkarte raucht –, benimmt sie sich reichlich seltsam.
Als Noa ihre Meinung kundtut, wird Audrey pathetisch und lässt kein Klischee aus. Sicher sei es schön, sich alles selbst kaufen zu können. Jemanden an der Seite zu haben, der für einen bezahlt, hätte jedoch einen ganz anderen Wert. »Jahrelang habe ich mich um alles allein kümmern müssen, jetzt kann ich mich einfach mal verwöhnen lassen. Mich als Frau fühlen.«
»Als Frauchen, meinst du wohl.«
Audrey verzieht das Gesicht, einen Moment sprachlos, was Noa genießt.
»Puh, kannst du gehässig sein.«
»Ist doch wahr. Fehlt nur noch, dass du Arne einen Fels in der Brandung nennst, der dir den Halt gibt, den du jahrelang vermisst hast.«
»Und wenn es so wäre? Ja, es stimmt schon. Arne gibt mir Halt.«
»Ich nicht, oder was?«
Audrey atmet tief durch. »Noa, das kannst du doch nicht vergleichen. Du bist meine kleine Schwester. Natürlich weiß ich, dass ich immer auf dich zählen kann, aber das ersetzt doch keinen erwachsenen Partner. Soll es ja auch gar nicht.«
Partnerschaft, Halt – für Noa klingt das nicht gerade nach großer, leidenschaftlicher Liebe, dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, ist Audrey entschlossen wie nie zuvor.
»Okay, aber muss er denn unbedingt gleich so erwachsen sein? Ich meine über vierzig?«
»Spielt das für dich wirklich eine Rolle?«
»Irgendwie schon. Er ist so anders als du. So besserwisserisch. Wie unsere beknacktesten Lehrer.«
Audrey trägt den Mantel zur Garderobe, wo sie ihn mit Hingabe auf einem Bügel drapiert, gut sichtbar wie einen besonders dekorativen Einrichtungsgegenstand. Obwohl es albern ist, macht Noa das Stillleben gleich wieder zunichte, indem sie ihre Kapuzenjacke auszieht und darüber hängt. Audrey lässt sie gewähren.
»Arne ist unsicher«, sagt sie. »Er muss sich erst mal an uns beide gewöhnen. Gib ihm Zeit.«
»Das würde ich ja gern. Aber wie soll das gehen, wenn er Hals über Kopf hier einziehen will? Dabei haben wir überhaupt nicht genug Platz.«
»Wir könnten auch zu ihm ziehen, wenn dir das lieber ist. Seine Wohnung in Eppendorf ist auf jeden Fall größer.«
»Kommt nicht in Frage, ich bleib hier.«
»Siehst du. Weil ich das wusste, dachte ich, wir versuchen es erstmal so. Und sehen dann, was sich ergibt.«
Noa wittert Heimtücke. »Du glaubst, ich ziehe ohnehin irgendwann aus, und dann habt ihr die Wohnung für euch.«
»So weit habe ich noch gar nicht in die Zukunft gedacht. Ich finde einfach, wir versuchen es erstmal so. Drei Personen sollten es doch irgendwie schaffen auf hundertzwanzig
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