Falsche Nähe
schweigend. Noa kaut Kaugummi. Tom reibt sich den Hals. Im sechsten Stock angekommen, entschlüpft er grußlos der Enge der Kabine.
Wie sich zeigt, kennt Audrey den Grund für die schlechte Laune ihres gemeinsamen Lieblingsnachbarn. Sie wirkt geknickt, ohne sich freilich einer Schuld bewusst zu sein: »Ich habe ihn lediglich gefragt, ob er und Laura sich vorstellen könnten, ihr Apartment gewinnbringend abzustoßen.«
»Warum das denn?«
»Weil ihr Wohnzimmer direkt unter unserem liegt. Arne könnte die Wohnung kaufen und irgendwann würden wir dann vielleicht einen Deckendurchbruch machen und eine Wendeltreppe installieren. Dann hätten wir viel mehr Platz. Und eine Maisonette-Wohnung. Das wäre doch was.«
»Aber das wollten sie nicht«, stellt Noa fest, die bereits die Anfrage für eine Zumutung hält. Toms Reserviertheit kam also nicht von ungefähr. Unter dieser Prämisse kann sie ihn gut verstehen. Wer lässt sich schon gern so mir nichts, dir nichts aus seinem Zuhause vertreiben, gewinnbringend oder nicht?
»Nein. Dabei behaupten er und Laura immer, sie wüssten die Wohnung ohnehin nicht richtig zu schätzen. Hast du doch selbst mitbekommen, oder? Davon keine Rede mehr. Du hättest ihn sehen sollen, der war richtig beleidigt.«
»Und das wundert dich?«
»Klar. Dich nicht? Du warst doch die Erste, die Angst hatte, es könnte nach Arnes Einzug hier zu eng werden.«
»Stimmt. Aber deswegen wollte ich noch lange nicht, dass ihr loszieht, um unsere nettesten Nachbarn zu vergraulen. Du magst Tom und Laura doch auch. Die sollen hier nicht ausziehen. Zumal sie sich immer um Pancake kümmern. Und die Blumen gießen.«
»Sicher mag ich die zwei. Und von vergraulen kann überhaupt keine Rede sein. Ich finde es gut, dass sie unter uns wohnen, aber noch lieber hätte ich eine Maisonette-Wohnung und sechzig Quadratmeter Wohnfläche mehr. Manchmal muss man Prioritäten setzen.«
»Nur schade, dass bei deinen Prioritäten neuerdings diverse Leute auf der Strecke bleiben. Bei dir dreht sich doch alles nur noch um Arne.«
Wieder einer dieser stressigen Wortwechsel zwischen ihnen. Sie leiden beide gleichermaßen darunter, aber in letzter Zeit bekommen sie kaum etwas anderes auf die Reihe.
Um kurz nach vier trifft Arne ein. Er zieht sich um, isst einen Happen, anschließend brechen die beiden zu einer Spritztour mit der Suzuki auf, denn es ist zwar kalt, aber sonnig und windstill, der Asphalt auf den Straßen trocken. Das ist die Chance, auf die sie gewartet haben. Auf die Noa gewartet hat.
Doch als sie allein ist, kommen ihr Bedenken: Falls sie wirklich Blut an Moritz’ Schwert findet, was will sie mit dieser Information anfangen? Beinahe bedauert sie, den verräterischen Fleck am Griff des Katana überhaupt bemerkt zu haben. Eigentlich kaum mehr als ein Schatten. Warum kann sie es neuerdings nicht lassen, Leuten, die sie gern hat, hinterherzuspionieren: erst ihrer Schwester, jetzt dem interessantesten Jungen, der ihr seit Wochen begegnet ist? Es ist wie ein innerer Zwang.
Noa gibt sich einen Ruck. Pragmatisch betrachtet: Sie ist schon zu weit gegangen, hat nicht fünfzig Euro für das Luminol an diesen dubiosen Internethändler überwiesen, um in letzter Sekunde zu kneifen. Dazu noch mal fast zwanzig Euro für das Zeug aus der Apotheke, den misstrauischen Blick des Verkäufers gab es gratis dazu. Wasserstoffperoxid, destilliertes Wasser, Tropfpipetten, Natriumcarbonat. Letzteres ist nichts anderes als Reinigungssoda, wie man es auch zur Vorbeugung gegen Schimmel benutzt, wäre ihr das rechtzeitig aufgefallen, hätte sie es wie die Handschuhe und die Sprühflasche in der Drogerie holen können, das wäre günstiger gewesen. Woran sie ebenfalls nicht gedacht hat: Im Chemielabor in der Schule gibt es Schutzbrillen. Jetzt muss sie mit ihrer Sonnenbrille Vorlieb nehmen.
Noa betritt Audreys Arbeitszimmer, was ihr inzwischen beinahe selbstverständlich erscheint, eine fragwürdige Angleichung des Status Quo. Pancake will mit, doch weil die Chemikalien für ihn gefährlich sein könnten, sperrt sie ihn aus. Sie hört, wie er seine Krallen an der geschlossenen Tür schärft, seine Art zu protestieren.
»Lass den Quatsch«, ruft sie, zieht das Schwert aus dem Seesack, bereitet auf dem Schreibtisch ihren Versuchsaufbau vor. Hundert Milliliter braucht sie von dem Wasser, darin werden ein Zehntel Gramm Luminol und fünf Gramm Soda aufgelöst, dann kommt das Peroxid. Mit Hilfe der digitalen Küchenwaage, so hofft Noa,
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